Borissow
Der scheidende Premier Boiko Borissow (rechts) übergab Ende Januar 2017 das Amt an Ognian Gerdschikow Bildrechte: Frank Stiehr

Ernüchternde Bilanz der Ära Borissow

21. März 2018, 16:07 Uhr

Boiko Borissow trat im Januar 2017 als Ministerpräsident zurück. Die Bilanz seiner sechs Amtsjahre ist ernüchternd. Die Bulgaren vertrauen mittlerweile den EU-Behörden in Brüssel mehr als ihren eigenen Politikern.

In Osteuropa ist die EU bei vielen Bürgern gar nicht mehr so wohlgelitten. Brüssel hat arg an Ansehen verloren, vor allem in der anhaltenden Debatte um die europäische Flüchtlingspollitik. Nicht einmal jeder zweite Serbe wünscht den Beitritt seines Landes zur EU; in Polen, der Slowakei und Ungarn etwa sehen viele Bürger genauso wie ihre national-konservativen Regierungen - äußerst kritisch. Diese skeptische Haltung muss überraschen angesichts der großen Zustimmung der Bulgaren zur EU. Sie vertrauen nämlich mehrheitlich eher den europäischen Institutionen als ihrer eigenen politischen Elite. "Exportieren wir unsere Politiker in den Westen und heuern von dort Politmanager an", lautet eine oft spaßhaft geäußerte Wunschvorstellung. Sie  hat einen ernsten Kern, ist sie doch Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber den bulgarischen Politikern und Wirtschaftseliten.

Ernüchternde Bilanz nach sechs Regierungsjahren

"Machen Sie nicht einfach eine Revision, stellen Sie die Ministerien auf den Kopf, um jegliche Spekulationen im Keim zu ersticken. Gibt es etwas, das Ihnen Sorge bereitet – sofort zur Staatsanwaltschaft damit!" In der ihm typischen Gönnermanier lud Bulgariens scheidender Ministerpräsident Boiko Borissow seinen kommissarischen Nachfolger Ognian Gerdschikow bei der Amtsübergabe Ende Januar 2017 ein, das Regierungshandeln seines Kabinetts auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen. "Diesem Wunsch verweigere ich mich nicht", entgegnete Gerdschikow höflich. "Ich hoffe aber, es kommen keine schlimmen Sachen heraus. Falls doch, sind wir es den Bürgern schuldig, gemäß den Gesetzen des Landes zu verfahren."

Mit seiner Übergangsregierung hat der frühere Parlamentspräsident Gerdschikow die wichtigste Aufgabe, vorgezogene Wahlen zur 44. Bulgarischen Volksversammlung am 26. März 2017 zu organisieren. Ministerpräsident Borissow war nach dem Sieg Rumen Radevs bei der Präsidentenwahl im November 2016 von seinem Amt zurückgetreten. Borissows offensive Aufforderung an Gerdschikow zum gnadenlosen Kassensturz weckte Erinnerungen an den Beginn seiner eigenen ersten Amtszeit im Sommer 2009. Als neugebackener Regierungschef erklärte er damals den Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität zur obersten Priorität. Über Wochen hinweg bombardierten seine Minister die bulgarische Öffentlichkeit mit immer neuen skandalösen Enthüllungen über Amtsmissbrauch und Misswirtschaft ihrer Vorgänger. Nichts Justiziables folgte schließlich daraus. Insgesamt fällt die Bilanz des Korruptionsbekämpfers Borissow nach insgesamt sechs Regierungsjahren mit zwei Kabinetten ernüchternd aus.

Bulgarien korrupter als der Weltdurchschnitt

So ist das Balkanland beim Transparency International’s (TI) Corruption Perceptions Index 2016 das am schlechtesten platzierte EU-Mitglied. Zusammen mit Tunesien, Kuwait und der Türkei rangiert Bulgarien unter 176 Staaten auf Rang 75. Mit seinem Index-Wert von 41 Punkten auf der Skala von 0 (hoch korrupt) bis 100 (sehr sauber) liegt es noch unter dem Weltdurchschnitt von 43 Punkten. Wenig vertrauenswürdige und schlecht funktionierende Institutionen sind laut TI charakteristisch für so niedrig eingestufte Länder wie Bulgarien. Hinzu kommen Probleme wie die Negierung bestehender Gesetze, häufige Konfrontationen der Bürger mit Bestechungsforderungen, begrenzte Medienfreiheit, erschwerter Zugang zu öffentlich relevanten Informationen, niedrige Standards bei Staatsbediensteten und mangelnde Unabhängigkeit der Justiz.

EU-Kommission bemängelt ausbleibende Erfolge in der Korruptionsbekämpfung

Seit Bulgariens EU-Beitritt im Jahr 2007 hat die Europäische Kommission in regelmäßigen Abständen ihre Berichte zum Mechanismus für die Zusammenarbeit und Überprüfung der Fortschritte der Justizreform und bei der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität vorgelegt. Der zuletzt publizierte 16. Fortschrittsbericht gleicht seinen Vorgängern. Stets bemängeln die Brüsseler Experten ausbleibende Verurteilungen in Korruptionsfällen gegen Angehörige der Nomenklatura und fehlende Aufklärungserfolge bei der Schwerstkriminalität. Diplomatisch verklausuliert loben sie gleichzeitig den vermeintlichen politischen Willen der Verantwortlichen in Sofia und geben gute Ratschläge. Auch die Reaktion bulgarischer Politiker auf die Vorhaltungen der EU-Kommission folgt den bekannten Schemen. Der Bericht, so verlauten sie für gewöhnlich, zeige in objektiver Weise vorhandene Schwachstellen auf und würdige gleichzeitig unternommene Anstrengungen.

Die zum Ritual gewordene Zeugniserteilung hat kaum zur Verbesserung des bulgarischen Rechtswesens beigetragen. Seit langem fordern bulgarische Politiker über Parteigrenzen hinweg ein Ende der Evaluation, die sie als diskriminierend empfinden. Laut einer "Eurobarometer-Umfrage" befürworten dagegen aber 72 Prozent der Bulgaren ihre Beibehaltung. 57 Prozent sehen positive Wirkungen des Überprüfungsmechanismus´ auf das bulgarische Rechtssystem, 53 Prozent auf den Kampf gegen das organisierte Verbrechen und 50 Prozent auf die Korruption. Mehrheitlich vertrauen die Bulgaren eher den Institutionen der Europäischen Union als ihrer eigenen politischen Elite.

Schlechte Presse

Erstmals hat sich die EU-Kommission in ihrem Evaluationsbericht kritisch zur Situation der bulgarischen Medien geäußert. "Die bulgarische Medienszene wird häufig durch einen niedrigen Grad der Unabhängigkeit und der ineffektiven Anwendung journalistischer Standards gekennzeichnet, was einen negativen Einfluss ausübt auf die öffentliche Debatte der Reformen", schreiben die Brüsseler Bürokraten. Wie beim TI-Korruptionswahrnehmungsindex trägt Bulgarien auch beim Pressefreiheitsranking von "Reporter ohne Grenzen" seit Jahren die rote Laterne aller EU-Staaten. In der Ära Boiko Borissow ist das Land gar von Rang 59 im Jahr 2008 auf Rang 113 abgestürzt.

Frank Stier, 1963 geboren, Studium der Geschichte und Soziologie an der TU Berlin; seit 2002 freier Journalist, lebt in Sofia

Über dieses Thema berichtete der MDR auch in "mdr aktuell" am 26. März 2017