Das Eigene und das Fremde Warum die Ungarn Angst vor Flüchtlingen haben

Von Agnes Szabó

13. September 2016, 10:50 Uhr

Hunderttausende Menschen verlassen ihre Heimat in Syrien, im Irak oder Eritrea, fliehen vor Krieg und Hunger nach Europa. Und Ungarn baut Zäune und setzt Wasserwerfer ein, um sich vor den Flüchtlingen abzuschotten. Warum? Angst oder Fremdenhass? Unsere Autorin Agnes Szabó mit einem Erklärungsversuch.

Zwei Meinungen aus meinem Freundenkreis in Ungarn zur Flüchtlings- oder, wie man bei uns lieber sagt, "Migrantenkrise", verdeutlichen aus meiner Sicht sehr gut, wie höchst unterschiedlich die Menschen in meinem Land mit dem Thema umgehen. Die beiden Frauen, von denen die Zitate stammen, sind gutbürgerlich erzogen und haben studiert.

Meinung eins "Mir tun diese Menschen sehr leid, weil sie aus der Hölle kommen. Aber du darfst auch nicht bestreiten, dass sie aus einer anderen Kultur kommen, ihre Werte sind nicht mit europäischen Werten zu vereinbaren und ich bin der Meinung, dass sie sich die europäische Kultur mit der Zeit auch nicht aneignen wollen. Wenn wir Ungarn in einer anderen Kultur leben würden, würden wir es uns nie trauen, uns nicht anzupassen. Das jetzige Europa ist zu Ende. Leider... Es kommt die Zeit, wo wir uns an sie anpassen müssen. Wir wissen nicht, wer diese Menschen sind, sie können sich oft nicht ausweisen. Ich habe vor denen Angst, weil sie sich radikal benehmen. Sie fordern viel, werden mit unserer Hilfe stark und es kommt die Zeit, wo wir uns vor denen beugen sollen."

Meinung zwei "Ungarn besteht nicht nur aus hassenden Nazis und hilfsbereiten Liberalen. Sehr viele stehen in der Migrantenfrage in der Mitte und versuchen sie rational zu betrachten. Die Situation ist nicht Folge der Politik des Landes, die Situation selbst ist Furcht- und Besorgnis erregend. Das ist eine neue Situation, deshalb hat man Angst, was eine normale menschliche Reaktion ist."

Woher kommen die Angst und der Hass gegen das Fremde?

Mit seiner Anti-Migrantenkampagne hat der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán genau ins Schwarze getroffen. Wenn er und die öffentlich-rechtlichen Medien zum Fremdenhass auffordern, springen viele Menschen auf den Zug auf. 61 Prozent der Bevölkerung sind nach den neuesten Untersuchungen der Meinung, dass die Grenze hermetisch abgesperrt werden und die Polizei gegen Flüchtlinge härter vorgehen soll. Die Flüchtlinge solle man in Aufnahmeheime einsperren, bis ihr Antrag überprüft und untersucht wird.

Diese Angst vor dem Fremden, und dadurch die Ausgrenzung der Fremden, hat mit unserem falsch betonten und nie richtig ausgelebten Nationalbewusstsein zu tun, das nicht erst mit der Wende, sondern viel früher entstanden ist.

Der lange Weg zum Nationalstaat

Agnes Szabo
Die ungarische Journalistin Agnes Szabó Bildrechte: MDR/Agnes Szabó

Ungarn stand von 1526 bis 1718 unter osmanischer Herrschaft, anschließend wurde das Land von der Habsburger Monarchie dominiert. Es dauerte weitere 130 Jahre bis die moderne ungarische Nation mit der Freiheitsbewegung 1848 geboren war. Doch schon nach Ende des Ersten Weltkrieges 1918 musste Ungarn als Kriegsschuldner büßen und Wiedergutmachung bezahlen. Dem Land wurden zwei Drittel seiner Gebiete abgeschnitten. Innerhalb der neuen Grenzen blieben von einstmals 18 Millionen Einwohnern weniger als 8 Millionen. Ungarn blieb Königreich ohne König und wurde bis 1944 vom Gouverneur Horthy geführt.

Die Folgen sind bekannt: Im Sinne der Jaltaer Entscheidung kam Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Einfluss der sowjetischen Besatzungszone. 1948, haargenau 100 Jahre nachdem aus Leibeigenen Landwirte geworden waren, fanden die Verstaatlichungen statt. Ungarn wurde wieder einer fremden Macht ausgeliefert.

Alles, was nicht ungarisch ist, ist fremd

Alleine an dieser groben Skizze sieht man, wie oft Fremde meinem Land ihre Ordnung aufgezwungen haben. Und das wollen Orbán und das Volk nicht wieder erleben. Steht doch in unserer Nationalhymne: "Gott, segne den Ungar! Mit frohem Mut und Überfluss. Strecke deinen schützenden Arm zu ihm hin, wenn er mit dem Feinde kämpft! Ihm, den lange schon das Unglück zerreißt, bringe fröhliche Jahre!"

Ungarn hat also wenig gute Erfahrung mit Fremden gemacht. Und als fremd gilt alles, was nicht ungarisch ist. Sogar die zwei größten Minderheiten, die Roma und Sinti (316.000) und die Juden (200.000) werden als Fremde abgestempelt, weil sie eine andere Kultur und eine andere Religion haben. Die anderen fremden Nationalitäten - Deutsche, Slowenen, Kroaten, Rumänen und Serben -  haben sich abgesehen von einigen ihrer alten Bräuche assimiliert.

Orbán schürt Ängste

1989 haben wir die Demokratie geschenkt bekommen. Wir haben dafür nicht gekämpft. Das gleicht einem Experiment. Menschen, die im Wesentlichen totalitär erzogen wurden, leben plötzlich in einem liberalen und demokratischen Staat. Viele kommen damit nicht klar. Sie haben ihre Orientierungspunkte, die Grenze, zwischen dem was man darf und nicht darf, verloren. Der beleidigten nationalen Identität reichen nicht mehr die Roma und Juden als Feinde aus. Und Orbán bestärkt die Bürger darin. Seine Strategie ist immer die gleiche: Anstatt Verantwortung zu übernehmen, zielt er auf das Bauchgefühl der Ungarn und schürt ihre Ängste vor Fremden.

(erste Veröffentlichung am 15. Oktober 2015)

Die ungarische Kulturjournalistin Agnes Szabó schreibt unter anderem für die Zeitungen "TAZ" und "Freitag". Sie lebt seit 2012 als freie Autorin in Berlin.