Donbass-Film: "Das könnte auch in Ostdeutschland passieren"

30. August 2018, 14:40 Uhr

In seinem Spielfilm "Donbass" schildert der Regisseur Sergei Loznitsa bitterböse den Alltag in der Ostukraine. Im Interview erklärt er, welche Botschaft er den Zuschauern damit vermitteln will und welche Lehren Europa aus dem Ukraine-Konflikt ziehen muss.

Die Vorpremiere in Leipzig eröffnet Sergei Loznitsa am Dienstag mit einer kurzen Rede, dann verlässt er den Saal. Zu oft hat er seinen eigenen Film bereits gesehen, der bei den Filmfestspielen in Cannes den Preis für die „Beste Regie“ erhielt. Monatelang hat er sich zuvor zuhause eingeschlossen und Videos, Fotos und Augenzeugenberichte aus der Ostukraine studiert.

Aus ihnen hat der Filmemacher, der auch preisgekrönte Dokumentarfilme über den Konflikt gedreht hat, zwei Stunden voller bitterböser Episoden aus dem Alltag in der Ostukraine destilliert. Monatelang hat er dafür mit 100 Schauspielern und über 2.000 Komparsen in Krywyj Rih im Süden der Ukraine gedreht. Die Industriestadt ähnelt architektonisch Donezk. Auch in Krywyj Rih versuchten Separatisten 2014, die Macht zu übernehmen, scheiterten aber.

Dass der Film teilweise dokumentarisch anmutet liegt auch daran, dass Loznitsa Augenzeugenberichte mitunter "Wort für Wort" filmisch umgesetzt hat. Humor, Zynismus und die unübersehbar verteilten Sympathien des Regisseurs wechseln sich teilweise im Sekundentakt ab. Das war durchaus sein Ziel, erklärt Sergei Loznitsa im Interview mit Heute im Osten.

Heute im Osten: Herr Loznitsa, die Situation im Donbass ist ein sehr sensibles Thema für viele Menschen, nicht nur in der Ostukraine. Warum haben Sie sich entschieden, diese in einem fiktiven Spielfilm zu verarbeiten und nicht einem Dokumentarfilm?

Sergei Loznitsa: Wie soll man die Situationen, die ich im Film gezeigt habe, dokumentarisch filmen? Das ist unmöglich. Aber alle Episoden im Film basieren auf echten Material, dass jemand vor Ort gefilmt hat oder auf Augenzeugenberichten. Das heißt, der Film basiert auf dokumentarischen Material.

Außerdem ermöglicht diese Form mir, meine eigenen Gedanken einfließen zu lassen. Ich kann mich auf bestimmte Aspekte fokussieren und einen eigenen Kosmos erschaffen. Und dieser Kosmos ist universell. Ich zeige kein ostukrainisches Problem, sondern ein postsowjetisches. Was dort passiert ist, kann in allen postsowjetischen Ländern passieren, auch hier in Ostdeutschland. Das sollen die Leute durch den Film reflektieren und auch ernst nehmen.

Sie zeigen also keine Gesellschaft, die gerade zerfällt, sondern eine, die vor 25 Jahren zerfallen ist und keiner wollte es wahrhaben?

Was ich zeige, sind die Umstände, aus denen Krieg entsteht. Und die haben viel mit der Sowjetunion zu tun, in der die Zivilgesellschaften zerstört wurde. Nach dem Ende der Sowjetunion gab es zwei verschiedene Wege in diesen Ländern. Entweder man baut eine neue Zivilgesellschaft auf oder man begibt sich auf den Weg der Zerstörung.

Es ändert auch nichts, ob die Leute dann gut leben und Geld verdienen. Gute wirtschaftliche Entwicklung verschiebt das Problem nur. Das Hauptproblem ist, dass es keine Nürnberger Prozesse für die sowjetische Führung gab. Jetzt rekreieren diese Leute das gleiche totalitäre System erneut.

Sie sind in Belarus geboren, in der Ukraine aufgewachsen und haben dort studiert, später haben sie viele Jahre in Russland gelebt. Wie gehen Sie vor diesem Hintergrund die Aufarbeitung so einen Konflikt an, der zwischen ihren verschiedenen Heimaten besteht?

Es ist kein Konflikt zwischen diesen Ländern. Das ist ein Konflikt zwischen zwei verschiedenen Mentalitäten. Es gibt Leute mit einer modernen Mentalität, die Individualität, Eigentum und Recht als Maximen hat. Auf der anderen Seite steht die Mentalität von Menschen, die diese Werte ablehnen. Es ist eine archaische Mentalität.

Schauen Sie, was in Russland geschieht. Die Herrscher dort haben die stalinistische Gesellschaftsordnung rekreiert, in der kein Recht herrscht. Das zeigt sich auch daran, wie viele Unschuldige dort in den Gefängnissen sitzen. Nehmen Sie etwa Oleg Senzow, der als Terrorist angeklagt wurde. Es gab keine Beweise, keine belastenden Aussagen, nichts. Aber er hat 20 Jahre bekommen. Das Gericht begründete das Urteil damit, dass Senzow "Ideen" für einen Umsturz gehabt hätte - 20 Jahre für Ideen! Und das ist nur ein Beispiel unter vielen.

Dieses Modell gibt es auf der einen Seite und auf der anderen das europäische Modell offener liberaler Gesellschaften. Aber nicht alle wollen dieses Modell annehmen, auch nicht in Deutschland, wie wir gerade in Chemnitz gesehen haben. Ähnlich ist es in der Ukraine. Manche Menschen wollen lieber in einem totalitären Staat leben, wo man sich selbst um nichts kümmern muss, sondern der Staat sich um alles kümmert. Diese Menschen haben eine nostalgische Sehnsucht nach diesem vermeintlich einfacheren Leben. Das hört man in der Ukraine genauso wie in Ostdeutschland.

Das ist der Hauptkonflikt unserer Zeit – und die Ukraine ist die Frontlinie dieses Konflikts zwischen Offenheit und Totalitarismus. Und diese Front – da bin ich mir zu 100 Prozent sicher – wird sich auf das nächste Land ausbreiten. Die Frage ist, welches wird es sein?

Zurück zur Ukraine. Das Land ist territorial und gesellschaftlich tief gespalten. Sehen Sie eine Chance, diese Teilung irgendwann zu überwinden?

Ich bin studierter Mathematiker, also halte ich mich an Zahlen. Die Ukraine hat 45 Millionen Einwohner, zwei Millionen davon leben in den besetzten Gebieten im Osten. Da brauchen wir nicht ernsthaft über eine Spaltung reden. Das Verhältnis ist 1:20. Ich weiß nicht, ob man diesen kleinen Teil, den Russland sich angeeignet hat, wieder mit dem Rest des Landes vereinen kann.

Aber die Menschen müssen über kurz oder lang miteinander auskommen?

Es herrscht Krieg. Jahr für Jahr entfernen sich die Leute mehr voneinander. Es wird daher schwieriger und schwieriger, diesen Graben zu überbrücken. Ohne russische Unterstützung wäre dieser Konflikt nicht ausgebrochen. Aber nun haben wir ihn und es ist viel schwieriger, wieder Frieden herzustellen.

Dahin ist es ein langer, langer Weg. Ich persönlich kann mir vorstellen, dass es klappt. Es gibt auch keine andere Lösung. Sie können nicht für immer kämpfen. Aber die Herrscher im Donbass können ihrer eigenen Situation nicht entfliehen. Es gibt dort keine funktionierende Wirtschaft, keine Jobs. Geld kann man nur mit Kämpfen verdienen, also an der Front. Und ich sehe auf keiner Seite den politischen Willen, aus diesem Kreislauf auszubrechen.

Zur Person Sergei Loznitsa wurde 1964 im heutigen Belarus geboren. Später zog er mit seiner Familie nach Kiew, wo Loznitsa Mathematik studierte und einige Jahre im Bereich der künstlichen Intelligenz forschte. 1991 zog er nach Moskau und studierte Regie an der staatlichen russischen Filmhochschule WGIK. Seitdem hat Loznitsa 18 Dokumentarfilme drei Spielfilme gedreht, von denen viele internationale Preise gewannen. 2014 drehte Loznitsa mit "Maidan"bereits einen Dokumentarfilm über die ukrainische Revolution. Sein vierter Spielfilm "Donbass" spielt in den besetzen Gebieten in der Ostukraine und erhielt bei den Filmfestspielen in Cannes den Preis für die "Beste Regie".

Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: TV | 15.06.2017 | 19:30 Uhr