Ukrainische Einwanderer in Polen: "Die Unsichtbaren"

29. Mai 2018, 10:34 Uhr

In Polen leben rund zwei Millionen Ukrainer. Die meisten sind Arbeitsmigranten. Doch bislang sind sie in der Gesellschaft fast "unsichtbar", findet der Fotograf Stepan Rudik. Das will er mit seinen Fotos ändern.

Eine verkleidete Frau auf einer Theaterbühne, ein einsamer Boxer im Ring, ein blutjunger Dirigent in einem Konzerthaus: Die Bilder des Fotografen Stepan Rudik zeigen auf den ersten Blick alltägliche Situationen aus verschiedenen Berufen. Auf den zweiten Blick zeigen sie jedoch auch eine Besonderheit, die alle portraitieren verbindet: Sie sind ukrainische Einwanderer in Polen.

Die Bilder: Ukrainische Einwanderer in Polen


Mann in Arbeitskleidung sitzt auf einer Plattform in einem Konzertsaal.
Wladyslaw Urnysche arbeitet seit zwei Jahren als Techniker im renommierten "Polnischen Theater" in Posen. Davor hat er in der Ukraine Kulturwissenschaft studiert. Ein Hochschuldiplom ist keine Seltenheit unter den Einwanderern aus dem Nachbarland. Bildrechte: Stepan Rudik/MDR
Mann in Arbeitskleidung sitzt auf einer Plattform in einem Konzertsaal.
Wladyslaw Urnysche arbeitet seit zwei Jahren als Techniker im renommierten "Polnischen Theater" in Posen. Davor hat er in der Ukraine Kulturwissenschaft studiert. Ein Hochschuldiplom ist keine Seltenheit unter den Einwanderern aus dem Nachbarland. Bildrechte: Stepan Rudik/MDR
 Mann in Ganzkörperschutzanzug mit Lackierpistole sitzt auf einem Hocker neben einem abgeklebten Auto.
Auch Witali Piatenko studierte in der Ukraine: Kybernetik und Ökonomie. Doch dann musste er ein Jahr lang an die Front in der Ostukraine. Heute arbeitet er als Lackierer im Posener Vorort Swarzędz. Mittlerweile ist er auch Teilhaber der Firma. Bildrechte: Stepan Rudik/MDR
Junger Dirigent mit erhobenem Taktstock vor einem Orchester.
Jaroslaw Schemet ist das Erfolgsbeispiel unter den Einwanderern aus der Ukraine. Der 23-jährige studiert an der Posener Musikakademie. Nebenbei hat er das Orchester "Musique Moderne" aufgebaut, das regelmäßig durch das In- und Ausland tourt. Bildrechte: Stepan Rudik/MDR
Zwei Frauen tanzen eng umschlungen Tango.
Maryna Romaniuks Passion ist der argentinische Tango, den sie in ihren Workshops in Posen lehrt. Hauptberuflich arbeitet die studierte Psychologin als Grundschullehrerin. Das Studium hatte sie bereits in der Ukraine begonnen, bevor es sie vor drei Jahren nach Polen zog. Bildrechte: Stepan Rudik/MDR
Mann arbeitet sich mit Tätowiernadel über den Handrücken eines Kunden.
Bereits seit neun Jahren lebt Maks Mariańczuk in Posen. Hier hat er einen Masterabschluss in Tourismus-Management erworben. Heute arbeitet er als Tatöwierer und Illustrator. Bildrechte: Stepan Rudik/MDR
Friseur schneidt Jungem auf einem Schaukelpferd die Haare.
Roman Piotrowski hat nicht nur einen urpolnischen Nachnamen, sondern ist auch einer der Veteranen unter den ukrainischen Einwanderern. In Posen betreibt er sein eigenes Friseurstudio. In seiner Freizeit tritt Piotrowski mit einem Team bei Hindernisläufen an. Bildrechte: Stepan Rudik/MDR
Mann in rotem Overall sitzt auf Gabelstapler in einer Lagerhalle.
Serhij Pawelchak hat in seiner Heimat Ukraine die Landwirtschaftsschule abgeschlossen und danach als Abteilungsleiter in der öffentlichen Verwaltung gearbeitet. Vor neun Jahren zog er nach Swadzim, 15 Kilometer nordwestlich von Posen, wo er als Gabelstaplerfahrer arbeitet. Bildrechte: Stepan Rudik/MDR
Frau saugt Boden zwischen Laufbändern in einem Fitness-Studio.
Natalija Mamchur ist ausgebildete Pädagogin. Wegen des Mangels an Arbeitsplätzen in der Ukraine zog sie vor einem halben Jahr nach Polen. Dort jobbt sie bislang als Putzkraft in einem Posener Fitnessstudio. Bildrechte: Stepan Rudik/MDR
Mann hält neugeborenes Schwein in einem Stall in der Hand.
Wadym Tsekhockij lebt seit zwei Jahren in Polen. In der etwa eine Autostunde von Posen entfernten Kleinstadt Mechnacz arbeitet er in einer Schweinezucht. Bildrechte: Stepan Rudik/MDR
Junger Mann in Sportsachen joungliert vor einem Stadion mit einem Fußball.
Wolodymyr Kostewych hat neben seiner Karriere beim ukrainischen Fußballerstligisten Karpaty Lwiw Geodäsie studiert. Vor einem Jahr wechselte er zum polnischen Club Lech Posen, der in der höchsten polnischen Fußballliga "Ekstraklasa" spielt. 2010 wurde der Verein mit dem damaligen Nachwuchsstürmer Robert Lewandowski polnischer Meister. Bildrechte: Stepan Rudik/MDR
Blonde Frau hält Vogel auf dem Arm auf einem eingezäunten Feld.
Olena Gomeniuk hat einen Doktor in Philologie. In Polen arbeitet sie bei einem Getränkehersteller. Daneben unterrichtet sie ukrainisch in einer Sprachschule und bringt ausländischen Angestellten einer Glashütte die Grundlagen der polnischen Sprache bei. Bildrechte: Stepan Rudik/MDR
Boxer mit Tattoo auf der Brust lehnt im Rings stehend an Wand. In Hintergrund trainieren andere Boxer.
Bogdan Pawelczak studiert in Posen Finanzrecht an einer Bankhochschule. In seiner Freizeit hält er sich im örtllichen Boxclub fit. Bildrechte: MDR/Stepan Rudik
Frau lehnt an einer Durchreiche in einer Bäckerei. Im Vordergrund eine Auslage mit Kuchen.
Kateryna Us hatte bereits in der Ukraine als Chefin eines Bauunternehmens Erfahrungen in der Geschäftswelt gesammelt. Nachdem sie vor einem Jahr nach Polen ausgewandert ist, baute sie sich in Posen gemeinsam mit Geschäftspartnern eine Patisserie auf, in der sie selbst am Ofen steht.

Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im:
TV | 09.06.2017 | 17:45 Uhr
Bildrechte: Stepan Rudik/MDR
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Bedingt durch Krisen, Krieg und Perspektivlosigkeit sind hunderttausende in den vergangenen Jahren ins Nachbarland Polen gezogen, zwei Millionen Ukrainer leben dort insgesamt. Der Fotograf Stepan Rudik, selbst Ukrainer, hat sie in seiner Wahlheimat Posen gesucht und portraitiert. Seine Bilder wurden im Frühjahr auf dem Marktplatz von Posen gezeigt. Auf Facebook stellt der Fotograf seine Protagonisten in Bildern und kurzen Biografien vor.

Das Interview mit dem Fotografen

Heute im Osten: Wieso haben Sie sich des Themas ukrainischer Einwanderer in Polen angenommen?

Stepan Rudik: Eigentlich hat sich meine Freundin dieses Projekt ausgedacht. Sie ist zwar Polin, gehört aber zur ukrainischen Minderheit im Land. Von ihr kam auch der Titel: "Die Unsichtbaren". Außerdem bin ich selbst Ukrainer. Ich weiß, was es heißt, in einem fremden Land zu leben, kenne alle Vor- und Nachteile. Das Thema berührt mich also, es ist auch ein Teil von mir.

Deshalb habe ich angefangen, über Bekannte, die selbst Ukrainer sind, andere Ukrainer zu suchen. Das war gar nicht so einfach. Da ich ein Dokumentarfotograf bin, war es für mich wichtig, an die Orte zu gehen, wo diese Menschen arbeiten. Ich wollte die Vielfalt der Berufe zeigen, in denen diese Menschen arbeiten.

In Polen leben aktuell schätzungsweise zwei Millionen Ukrainer. Warum sind sie in Ihren Augen unsichtbar?

Als ich vor zwei Jahren das Projekt begonnen habe, gab es noch nicht so viele Ukrainer in Polen. Damals waren sie wirklich kaum wahrnehmbar. 2017 allerdings, als die Visumfreiheit zwischen der EU und der Ukraine eingeführt wurde, kam eine große Welle von Arbeitsmigranten hierher. Und damit sind sie natürlich auch auf der Straße sichtbar und hörbar geworden.

Aber Ukrainer unterscheiden sich kaum von Polen, was die Hautfarbe, Gesichtszüge und Kleidung angeht. Auf der Straße kann man nie sicher sagen, ob jemand Pole oder Ukrainer ist. Das andere ist, dass die Ukrainer hier hauptsächlich Arbeiten nachgehen, die kaum sichtbar sind: als Bauarbeiter, Küchenhilfen, Putzkräfte. Sind also da, sie sind sehr viele, aber sie bleiben weiterhin unsichtbar – vor allem für Polen.

Warum arbeiten so viele Ukrainer in diesen "unsichtbaren" Berufen?

Nehmen wir Mediziner als Beispiel. In Polen ist es für Ukrainer sehr schwer, ein entsprechendes europäisches Zertifikat zu bekommen, um im medizinischen Bereich zu arbeiten. Deswegen nehmen selbst Menschen mit Hochschulabschluss Jobs auf Baustellen an. Denn weil die wirtschaftliche Situation in der Ukraine schwierig ist, sind die Menschen schlicht gezwungen, jede Arbeit und jeden Lohn zu akzeptieren.

Frauen arbeiten hauptsächlich als Putzfrauen oder Erntehelferinnen, etwa bei der Erdbeerernte. Die Leute leihen sich teilweise Geld in der Ukraine, um hierher zu kommen. Und nach den ersten zwei, drei Monaten hier können sie das Geld dann zurückgeben. So schwierig ist die Situation.

Sie haben die Bilder auch auf dem Posener Marktplatz ausgestellt. Wie haben die Menschen auf die Fotos reagiert?

Konkrete Reaktionen kamen eigentlich hauptsächlich von Ukrainern, vor allem von den Protagonisten meines Projekts. Natürlich sind sie froh darüber, dass ich sie sichtbar gemacht habe. Auch, weil ich über diese Thema rede. Ich war zum Beispiel im Fernsehen und habe Interviews gegeben.

Ausstelungsstellwände mit Fotos auf einem historsichen Marktplatz.
Auf dem Marktplatz von Posen wurden Stepan Rudiks Fotos im Frühjahr der Öffentlichkeit präsentiert. Bildrechte: MDR/Stepan Rudik

Von den Polen in Posen habe ich persönlich leider bislang noch keine Reaktionen bekommen. Aber ich war fast täglich auf dem alten Markt, wo die Bilder ausgestellt wurden. Das ist ein zentraler Platz, wo viele Touristen aus ganz Europa vorbeikommen und die haben sich sehr für die Bilder interessiert. Aber auch viele Posener waren da und haben sich die Ausstellung angesehen. Das Interesse an dem Thema ist also offensichtlich da.

Welche Geschichte hat Sie während der Arbeit am Projekt am meisten bewegt?

Ich habe ja nicht nur die Arbeitssituation der Menschen fotografiert, sondern auch ein Porträt von ihnen gemacht. Und am Ende unseres Treffens habe ich immer ein Diktiergerät  rausgeholt und die Leute gefragt, welche Träume sie haben. Das war für sie eine Überraschung und sie mussten erst einmal etwas darüber nachdenken. Dann sagten die meisten, dass ihnen das Glück und die Gesundheit ihrer Familie und ihrer Kinder am wichtigsten seien.

Konkret jedoch haben mich einige der jungen Einwanderer beeindruckt. Ein Dirigent zum Beispiel, Jaroslaw Schemet aus Charkiw. Mit seinen 23 Jahren hat er schon ein eigenes Orchester, ist vielfach ausgezeichnet und international gefragt. Der hat große Ambitionen.

Viele Einwanderer denken aber, dass es unmöglich ist, sich in einem fremden Land mit einer fremden Sprache zu verwirklichen. Sie glauben, dass sie deswegen nur körperliche Arbeit verrichten können. Menschen wie Jaroslaw Schemet  beweisen uns das Gegenteil. Das inspiriert mich selbst, genauso wie andere Ukrainer. Es ist einfach schön, wenn solche Geschichten sichtbar werden.     

Boxer mit Tattoo auf der Brust lehnt im Rings stehend an Wand. In Hintergrund trainieren andere Boxer.
Bildrechte: MDR/Stepan Rudik

Zur Person Stepan Rudik wurde 1982 im ukrainischen Ismajil geboren. Er studierte in Kiew Fotografie, gewann 2007 zwei Grands Prix bei internationalen Fotobiennalen in Rivne (Ukraine) und Surgut (Russland). 2010 wurde er Fellow des "Gaude Polonia"-Programms der polnischen Regierung. Rudik lebt seit 2014 im polnischen Posen und arbeitet als freier Fotograf.

Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: TV | 09.06.2017 | 17:45 Uhr