Jahresrückblick Osteuropa 2017: Angriffe auf die Demokratie

27. Dezember 2017, 12:10 Uhr

Osteuropa hat ein Jahr der Demonstrationen und politischen Reformen erlebt - zu Lasten der Demokratie. Die Länder sind gespalten, die Konflikte mit der EU geraten zum offenen Schlagabtausch.

Flüchtlinge, Justiz und Nationalstaat: Unsere östlichen Nachbarn wollen ein anderes Europa. Am deutlichsten zeigt sich das beim Streit um die Aufnahmequoten von Geflüchteten: Osteuropa schottet sich ab, baut Zäune und klagt vor dem Europäischen Gerichtshof. Die EU schlägt zurück und droht mit schärfsten Maßnahmen - wie im Fall Polens. Ein Riss geht durch Europa.

Die wahre Schlacht beginnt erst jetzt.

Peter Szijjarto

Martialisch äußerte sich im Herbst der ungarische Außenminister Peter Szijjarto zum Flüchtlingsstreit mit der EU. Seine Reaktion zeigt, wie verhärtet die Fronten in der europäischen Gemeinschaft sind. Wo prallen unterschiedliche Werte und Vorstellungen aufeinander? Wie reagieren die Menschen? Und wo werden demokratische Grundsätze ausgehöhlt? Ein Rückblick auf das politische Jahr 2017 in Osteuropa.

Punkt 1: Der Streit um die Flüchtlingsquote

Flüchtlingsquote - nicht mit uns! Ungarn, Polen und Tschechien wollen keine Geflüchteten aus Griechenland und Italien aufnehmen. Allerdings beharren die restlichen EU-Staaten auf einer Umverteilung nach Quote. Schließlich hatten sich die EU-Innenminister darauf im September 2015 geeinigt - doch schon damals gegen den Widerstand aus Osteuropa. Die EU-Kommission klagt nun gegen die drei osteuropäischen "Ausreißer" vor dem Europäischen Gerichtshof. Damit landete bereits der zweite Prozess zur Umverteilung vor Gericht. Denn zuvor hatten bereits Ungarn und die Slowakei gegen den EU-Beschluss geklagt, jedoch ohne Erfolg.

Verhärtete Fronten

Danach erklärte die Slowakei zähneknirschend, das aktuelle Urteil zu akzeptieren. Trotzdem kritisierte Regierungschef Robert Fico die Entscheidung als "ungerecht". Sein Land ist derzeit das einzige der vier Visegrad-Länder, das nicht von einem Verfahren bedroht ist, weil es zuletzt eine kleine Zahl von Geflüchteten aufgenommen hat.

Ganz anders Ungarn: Außenminister Szijjarto sprach nach der Niederlage vor dem EuGH, Anfang September 2017, von einer "Vergewaltigung" des europäischen Rechts. Auch die damalige polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo und der tschechische Regierungschef Bohuslav Sobotka erklärten, ihren Standpunkt nicht zu ändern und auch weiterhin keine Flüchtlinge im Rahmen der Quotenregelung aufzunehmen.

Punkt 2: Umstrittene Justizreformen

Auch in Puncto Rechtstaatlichkeit prallen zum Teil unterschiedlichste Positionen zwischen der EU und mehreren osteuropäischen Ländern aufeinander. Zuletzt gab es in Rumänien und Polen heftige Debatten über umstrittene Justizreformen.

EU-Kommission eröffnet Sanktionsverfahren gegen Polen

Nach zwei Jahren Dauerstreit hat die Europäische Kommission im Dezember ein Strafverfahren gegen Polen eingeleitet. Die Brüsseler Behörde sieht in den Justizreformen der nationalkonservativen Regierungspartei PiS eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit und damit für die Grundwerte der Europäischen Union. Der EU-Vize-Kommissionspräsident Frans Timmermans sprach von einem "systematischen" Eingreifen in das Funktionieren des Justizsystems. Polen wies das Verfahren als "politisch motiviert" zurück. Das Strafverfahren gilt als schärfste Maßregelung gegen einen EU-Mitgliedstaat und kann zum Entzug des Stimmrechts führen - allerdings nur, wenn alle anderen EU-Länder dafür sind. Ungarns Ministerpräsident Orban kündigte indes an, sich auf die Seite seines osteuropäischen Partners Polen zu stellen und dagegen zu stimmen.

In Polen selbst eskalierte der Streit um die geplante Justizreform Mitte Juli. Zehntausende Menschen demonstrierten tagelang gegen die "Abschaffung der Gewaltenteilung". Auch Rechtsexperten kritisierten, dass die PiS mit ihren neuen Gesetzen Einfluss auf Richter und Gerichte gewinne. Die PiS argumentierte hingegen: der Justizapparat sei seit dem Ende des Kommunismus 1989 nicht reformiert worden und die Richter seien größtenteils korrupt. Überraschend legte der polnische Präsident und Jurist Andrzej Duda sein Veto ein. Das Parlament milderte daraufhin das umstrittene Gesetzesprojekt ab, hielt aber an der Reform des Obersten Gerichtes und des Landesjustizrats in Polen fest. Nur die Unterschrift von Präsident Duda fehlt noch.

Rumäniens neue Regierung verspielt Vertrauen

Auch in Rumänien sehen Kritiker die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr. Kurz nachdem die neue rumänische Regierung im Januar 2017 stand, folgte ihr erster Angriff auf Anti-Korruptionsregelungen, die viele Politiker seit Jahren stören: Ein Eilerlass sollte Amtsträgern Straffreiheit bei Amtsmissbrauch gewähren, bei einer Schadenssumme von bis zu 45.000 Euro. Eine hohe Summe, in einem Land, in dem der Bruttodurchschnittslohn bei rund 720 Euro liegt. Der Eilerlass vom Januar war persönlich auf den Chef der regierenden Sozialdemokraten (PSD) und gleichzeitigen Chef der Abgeordnetenkammer, Liviu Dragnea, zugeschnitten. Wäre er in Kraft getreten, wäre ein Prozess gegen Dragnea null und nichtig gewesen. Das trieb Hunderttausende Menschen zu Protesten auf die Straße in Bukarest und anderen Städten des Landes. Es war die größte Empörungswelle seit der 1989er-Revolution. Mit Erfolg: Die Regierung rückte im Februar vom Eilerlass ab.

Ende des Jahres dann der zweite Knall: Unbeirrt von den Protesten, billigten die sozialdemokratische PSD und die liberale ALDE Mitte Dezember eine umstrittene Justizreform - trotz heftiger Kritik von Richtern und Staatsanwälten, der EU sowie der US-Botschaft in Bukarest. Und trotz neuer Straßenproteste. Kritiker befürchten, dass damit Staatsanwälte und Richter künftig eingeschüchtert werden sollen, um heikle Ermittlungen zu umgehen oder gefällige Urteile zu liefern. Noch ist die Reform nicht in Kraft. Sie muss erst noch vom Präsidenten des Landes unterzeichnet werden. Die Reformpläne beschäftigen auch den Europarat. Eine Staatengruppe gegen Korruption (Greco) soll jetzt die Justizreform in Rumänien bewerten.

Punkt 3: Nationalistische Tendenzen

Nicht nur in Deutschland fallen rechtspopulistische Forderungen und ein Anti-EU-Kurs auf fruchtbaren Boden, was sich zuletzt im Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl zeigte. Auch in Osteuropa gibt es Potenzial für radikale Parteien und Ansichten.

Die EU als Zielscheibe von Tschechiens Rechtspopulisten

So war es kein Zufall, dass sich im Dezember Rechtspopulisten aus ganz Europa in Tschechiens Hauptstadt Prag trafen. Eingeladen hatte der tschechische Politiker Tomio Okamura. Mit seiner SPD-Partei ("Freiheit und direkte Demokratie") gewann er bei der Parlamentswahl Anfang Dezember immerhin 10,6 Prozent der Stimmen. Es fehlte nicht viel, dann wäre seine Partei zweitstärkste Fraktion in Tschechien geworden. Damit könnten Okamura und seine rechtspopulistische Partei bei der angestrebten Minderheitsregierung um Ministerpräsident Babis zum Zünglein an der Waage werden.

Punkten konnte Okamura mit seinem harten Kurs gegen Flüchtlinge, den Islam und die EU. Obwohl Okamura selbst einen Migrationshintergrund hat, er wurde als Sohn einer tschechischen Mutter und eines japanischen Vaters in Tokio geboren, fordert er eine "Null-Toleranz-Politik gegen die illegale Migration und den Islam" und hetzt gegen ein angebliches "brutales Diktat aus Brüssel". Auf einer Linie ist er dabei mit Marine Le Pen aus Frankreich und Geert Wilders aus den Niederlanden. Auch sie warben beim Treffen in Prag für eine strikte Anti-Zuwanderungs-Politik und ein Ende der EU in ihrer jetzigen Form. Damit stoßen sie in Tschechien auf große Zustimmung. So halten laut einer Eurobarometer-Umfrage nur 33 Prozent der Tschechen die EU-Mitgliedschaft für positiv. Das ist der niedrigste Wert unter allen 28 EU-Staaten.

Nationalismus in Kroatien

Auch in Kroatien sei extremer Nationalismus auf dem Vormarsch, so beschreibt unser Ostblogger auf dem Westbalkan Andrej Ivanji seine Eindrücke Anfang des Jahres. Er blickt auf ein Land, in dem faschistisches Denken und Symbolik wieder salonfähig wird - gar zur Popkultur. So ist Marko Perković Thompson nicht nur der wohl populärste Sänger in Kroatien sondern, wegen seiner Glorifizierung des faschistischen Ustascha-Regimes an Hitlers Seite, auch eine Ikone der Rechtpopulisten. Gerade deshalb wurden seine Auftritte in der Schweiz, den Niederlanden, Österreich und Slowenien verboten oder zwangsweise abgesagt.

(me/dpa)

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im: TV | 16.12.2017 | 19:30 Uhr