Polen Mini-Läden im Warschauer Untergrund

14. Januar 2019, 11:08 Uhr

In Warschau erleuchten Mini-Läden die dunklen Straßenunterführungen und Tunnelsysteme. Sie sind wenige Quadratmeter groß und verkaufen oft nur ein Nischenprodukt: Unterwäsche, Porzellan, Souvenirs, Schlüssel, Telefone oder Wolldecken. Wer kauft dort ein? Und wie können die Läden überleben? Vier Verkäuferinnen und Verkäufer erzählen aus ihrem Alltag.

Ewa Czerwińska: Warten auf Weihnachten und Ostern

Ewa Czerwińska lacht auf und breitet die Arme aus: "Sehen Sie sich um, hier ist kein einziger Mensch. Und was bedeutet das für ein Geschäft, wenn die Kunden ausbleiben?" Czerwińskas Pavillon in der Unterführung unter dem Kulturpalast ist vollgestopft mit Blusen, Hosen, Handschuhen und Mützen. Die 62-Jährige mietet die Fläche seit mehr als 20 Jahren. Hier im Herzen Warschaus habe sich vieles verändert. "Es sind nicht nur die neuen Shopping-Malls und Ketten, die uns das Geschäft vermiesen, sondern auch die vielen Büros", sagt Czerwińska. "Die Leute hasten nach der Arbeit schnell zur U-Bahn und Tram und schlendern nicht mehr an den Schaufenstern vorbei". Den Zigarettenladen gegenüber habe es von Anfang an gegeben, aber viele Miniläden hätten in den vergangenen Jahren aufgegeben. Doch Czerwińska bleibt: Sie habe Stammkunden, die seit Jahren kämen: "Wir bieten polnische Produkte an und Kleidung in Übergrößen, das bekommt man nicht überall". Hauptsächlich aber halte sich der Laden durch den Kaufrausch an Weihnachten und Ostern.

Wojciech Gałązka: Seit 22 Jahren im Untergrund

Wojciech Gałązka, 47, schaut mürrisch über den Rand seiner Brille, als sich der nächste Kunde in seinen Laden zwängt. "Kann ich hier eine Batterie für meine Uhr auswechseln lassen?", fragt ein Kunde, der gerade in den Laden gekommen ist. "Können Sie", brummt Gałązka. Es ist elf Uhr vormittags und Gałązka kopiert einen Schlüssel nach dem anderen. Fünf Kunden warten bereits in der Schlange. Es kommen Ältere und Jüngere, Frauen und Männer. "Gestern habe ich 70 Schlüssel verkauft", sagt Gałązka, "Und das war ein Mittwoch, also einer der ruhigen Tage". Seit 22 Jahren verkauft er Uhren und Schlüssel in diesem Miniladen in der U-Bahn-Unterführung. Vor wenigen Tagen hat er den Laden übernommen. "Ich hoffe also, dass wir hier unten noch ein Weilchen bleiben", sagt er. Die anderen Verkäufer ringsum kenne er kaum. "Wir bleiben den ganzen Tag in den Läden, wir gehen nicht schnell mal zum Nachbarn", erklärt Gałązka. "Manche kenne ich vom Sehen: Weiter hinten sind die Frauen mit Kleidung und Schuhen und hier bei den Telefonen ist die Gesellschaft eher männlich."

Katarzyna Abdelmassih: Touristen kommen nur im Sommer

"Solange die Stadt uns unterstützt, können wir hier unten weiter existieren", sagt Katarzyna Abdelmassih. "Die Stadt vermietet die Flächen im Tunnelsystem beim Hauptbahnhof an ein Unternehmen, das einige der Mieter vor Jahren selbst gegründet haben." Das halte die Mini-Läden zusammen, sagt die 50-Jährige. Abdelmassih verkauft seit drei Jahren in einem Pavillon, der etwas abseits steht. Es riecht nach Räucherstäbchen und Kaffee und es ist kalt, die Verkäuferin trägt eine Jacke. Eine Frau kommt in den Laden, packt schnell ein Stück Porzellan und legt es auf die Kasse. "Das ist eine Zuckerdose", sagt Abdelmassih, sie ist erstaunt über die schnelle Kaufentscheidung. "Das weiß ich doch", antwortet die Frau. "Ich habe sie schon gestern Nacht gesehen und musste sie unbedingt haben". Die Kundin zahlt und geht. "Meist verbringen die Kunden mehr Zeit bei mir", erklärt Abdelmassih. Sie erzählt, dass sich die handbemalten Porzellantassen am besten verkaufen. Kaffee, Tee oder Holzfiguren, die sie auch anbiete, gingen nicht so gut. "Die meisten Kunden sind Einheimische", sagt Abdelmassih, "nur im Sommer kommen auch Touristen in den Laden." Letzens habe sogar eine Frau aus Israel eine Tasse gekauft.

Dusia Zając: Reizwäsche verkaufen in zehn Minuten

Die Decke über Dusia Zając Kopf vibriert. In der Ebene über ihr fährt gerade ein Zug ein. Die Verkäuferin hat sich an den Lärm gewöhnt, sie lässt sich nicht stören. "Ich habe zehn Minuten, um einer Kundin Unterwäsche zu verkaufen", erklärt Zając. "Zehn Minuten - inklusive Beratung, Anprobe und Bezahlung." Die Kundinnen seien auf dem Sprung zu ihrem Zug. Oft komme Laufkundschaft, die von den knalligen BHs und Slips im Fenster angezogen werde. Zając verkauft seit zwölf Jahren Unterwäsche, seit drei Jahren in einer Warschauer Unterführung. "Die Leute hier sind weniger reich und das ist ganz angenehm", sagt sie. "Sie behandeln mich als Berater, nicht als Dienstleister". Der Miniladen, in dem Zając arbeitet, gehört zu den kleinsten. Trotzdem sind darin zwei kleine Ankleidekabinen. "Es ist sehr eng und intim hier", sagt die Verkäuferin. "Deshalb müssen wir gut ausgebildet sein. Denn die Kundin muss sich wohlfühlen, obwohl zwei Meter weiter Menschenmassen vorbeilaufen."

Auf die Zukunftsaussichten angesprochen, reagieren die vier Verkäufer wortkarg: Sie wollen nicht über die düsteren Aussichten für die Mini-Läden sprechen - auch nicht über Alternativen. Sie wollen weiter verkaufen, so lange es eben geht. Auch wenn sie sich nicht persönlich kennen: Hier im Untergrund verstehen sie sich gewissermaßen als Familie, die zusammenhält.


Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: TV | 11.02.2016 | 17:45 Uhr