Festnahmen bei Nawalny-Demos in Moskau am 12.06.2017 - Festgenommener Demonstrant im Polizeibus.
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Augenzeugenbericht Deutscher Student in Putins Gefängnis

31. August 2017, 18:41 Uhr

Peter M. wird den 12. Juni 2017 noch lange in Erinnerung behalten. An diesem Tag durfte der deutsche Austauschstudent völlig unerwartet mit dem russischen Staatsapparat Bekanntschaft machen und wurde bei einer Kundgebung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny festgenommen.

Mit Tausenden Anderen kommt Peter M. an diesem Nachmittag in die Moskauer Innenstadt. Die erste Welle von Festnahmen ist bereits vorbei, als er auf dem Puschkinplatz ankommt. Kaum einer hat noch Plakate in der Hand, Losungen sind nur vereinzelt zu hören. "Es war relativ ruhig und wirkte im Prinzip nicht wie eine Demonstration", erinnert sich M. Dennoch beginnt eine Sondereinheit der Polizei, die Menschenmenge einzukesseln und immer wieder einzelne Personen abzuführen. Der Gaststudent aus Deutschland verfolgt die Szene aus scheinbar sicherer Entfernung. Doch dann kommt die unerwartete Wende.

Festgenommen und abgeführt

Festnahmen bei Nawalny-Demos in Moskau am 12.06.2017 - Sondereinheit der russischen Polizei.
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"Plötzlich wurde ich hinten am Rucksack gepackt und abgeführt. Ich weiß nicht, warum gerade ich rausgefischt wurde“, erzählt M. Im Polizeibus herrscht fast heitere Stimmung. Die Festgenommenen beruhigen sich gegenseitig, machen Selfies und Witze. Und bald darauf klingelt bei jemandem das Handy. Am anderen Ende: die OVD-Info, eine informelle Organisation, die Festgenommene juristisch berät und genaue Angaben zu Verhaftungen bei Massenprotesten im Internet veröffentlicht. Denn die Behörden tun das gar nicht oder nur mangelhaft.

OVD-Info - eine anerkannte Institution

Im Polizeibus, in dem Peter M. mit 20 anderen Menschen eingepfercht ist, geht das Telefon herum. Das Team von OVD-Info erkundigt sich: Unter welchen Umständen erfolgte die Festnahme? Wer ist alles dort? Namen und Kontaktdaten werden notiert und, wenn die Festgenommenen einverstanden sind, im Internet veröffentlicht. Inzwischen ist die OVD-Info eine anerkannte Institution. Während der Massenproteste von 2011 von einer Gruppe junger Journalisten und Programmierer gegründet, hat sie sich seitdem zu einem umfassenden analytischen Projekt entwickelt, das sich mit politischer Verfolgung in Russland befasst. Allein an jenem 12. Juni 2017, an dem Peter M. im Polizeigewahrsam landet, werden über die Hotline der OVD-Info mehr als 2.500 Telefonate geführt. Das Team, das 77 Helfer zählt, hat alle Hände voll zu tun. Die Bilanz des Tages, an dem russlandweit gegen Korruption und Misswirtschaft demonstriert wird: 1.769 Festnahmen in 31 Städten.

Solche Zahlen würden die russischen Machthaber am liebsten vor der Weltöffentlichkeit verbergen. Kein Wunder, dass OVD-Info schon mehrmals kurz davorstand, in die Liste der sogenannten "ausländischen Agenten" aufgenommen zu werden. Denn das Projekt wird unter anderem über Spenden und Crowdfunding finanziert und auch aus Mitteln der EU-Kommission. Das Team selbst betont allerdings stets seine unabhängige und apolitische Haltung.

"Generation Putin"

Die Staatsmacht sieht das anders. Sie tut alles, um Proteste von Nawalny-Anhängern, die sie offenbar als ernsthafte Gefahr betrachtet, zu verhindern. Vielleicht auch deshalb, weil die Mehrheit der Demonstranten junge Menschen sind, Studenten und Schüler – ein Novum in der jüngeren russischen Geschichte. Man nennt sie die "Generation Putin", weil sie nur ein Russland unter Putin kennen. Und gerade sie stehen dem "Landesvater" nun besonders kritisch gegenüber. Russland brauche einen Systemwechsel, so die weit verbreitete Ansicht.

Solche Kritik ist der Staatsmacht ein Dorn im Auge. Über verschiedene Kanäle wird daher versucht, Nawalny und seine Anhänger zu verleumden. In einem Anti-Protest-Song rät die bekannte russische Sängerin Alisa Vox den Schülern "sich nicht in die Politik einzumischen" und stattdessen "lieber Mathe zu lernen". In einem anderen Musikvideo macht sich ein Rapper über die Teilnehmer von oppositionellen Versammlungen lustig. Berichten zufolge werden Schüler nach Demonstrationen zu Einzelgesprächen in die Schule geladen, bei denen gedroht wird, die Eltern zur Verantwortung zu ziehen. Um die Protestbewegung in Misskredit zu ziehen, wurde auch das Gerücht in Umlauf gebracht, die Jugendlichen bekämen Geld für ihre Teilnahme an den Demos.

Nichts aus der Hand geben

In dem Polizeibus, in dem sich Peter M. unerwartet wiederfindet, sind die meisten Festgenommenen unter 25. Über soziale Netzwerke und Messaging-Dienste stellt OVD-Info ihnen einen ersten juristischen Leitfaden bereit: "Im Falle einer Festnahme keinen physischen Widerstand leisten. Unter keinen Umständen den Pass, eigene Technik und andere persönliche Gegenstände aus der Hand geben." Für die Kommunikation mit den Gesetzeshütern werden vorbereitete Standardfloskeln empfohlen, die man auswendig lernen soll. Peter M. erhält die Hinweise über einen gemeinsamen Chat, den die Festgenommenen im Bus anlegen.

Abschreckung

In der Polizeiwache angekommen, müssen die Demonstranten in einem Innenhof stundenlang auf ihre Einzelverhöre warten. Die Staatsmacht stellt weder Wasser noch irgendeine Art von Verpflegung bereit. Darum kümmern sich Freunde und Angehörige, die, von der OVD-Info koordiniert, Getränke und Sandwiches durch den Zaun reichen. Auch seine Kommilitonen aus Deutschland rufen nach einiger Zeit an – sie finden Peter M. auf einer Namensliste, die von der OVD-Info im Netz veröffentlicht wurde. Das Smartphone darf der deutsche Austauschstudent die ganze Zeit behalten. "Ich hätte sogar eine Liveübertragung aus der Polizeiwache machen können", erinnert er sich.

Normalerweise dürfen von der Festnahme bis zur Freilassung maximal drei Stunden vergehen. Für Peter M. wurden es am Ende neun. Viele einheimische Demonstranten kamen erst nach Tagen frei. Eine Anzeige gab es nicht, und auf die Nachfrage, auf welcher Grundlage man die zumeist jugendlichen Demonstranten festhielt, hatten die überforderten Polizisten keine Antwort. Die Festnahmen, so nimmt man bei der OVD-Info an, dienten vor allem der Abschreckung.

Die Abkürzung "OVD" steht im Russischen für "Abteilung für innere Angelegenheiten" und meint die kleinste Verwaltungsabteilung im Innenministerium der Russischen Föderation.

Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im TV: MDR | 23.06.2017 | 17:45 Uhr