Eine weiße Stretchliimousine steht auf der Grossen Moskauer Bruecke und wartet auf eine Hochzeitsgesellschaft, die sich vor der Kreml Kulisse fotografieren laesst. Davor ein Fahrradfahrer.
Stadt der Extreme: in Moskau trifft protzige Autoliebe auf eine aufkeimende Radfahrkultur. Bildrechte: picture alliance/dpa | Thomas Uhlemann

Fahrradfahren in Russland: "Es ist etwas in Bewegung"

30. August 2018, 14:32 Uhr

Russen lieben ihre Autos. Doch zumindest in den Großstädten wächst die Zahl der Radfahrer. Auch die Stadtverwaltungen reagieren - zumindest langsam - auf den Trend, meint Nadezda Zherebina von Russlands größter Fahrrad-NGO "Let’s bike it", die wir während eines Standtplanungs-Workshops im Neuen Rathaus in Leipzig getroffen haben.

Heute im Osten: In ihrer Heimatstadt Moskau sind Radfahrer im Vergleich zu den Millionen Autos noch eine absolute Minderheit. Dennoch sieht man im Zentrum zunehmend neue Radwege. Was passiert da gerade?

Nadezda Zherebina: Wir sehen langsam einen Wandel, der vor etwa zehn Jahren begonnen hat. Damals hat man das Fahrradfahren als etwas gesehen, dass man am Wochenende im Park macht. Wenn man mit dem Rad zu Arbeit gefahren ist, wurde man angeschaut, als sei man verrückt.

Zu der Zeit hat Moskau aber einen neuen Bürgermeister bekommen und der hatte ein ganz großes Problem: die gigantischen Staus, die jeden Tag die Stadt lahmlegten. Deshalb hat er nach Alternativen geschaut und auch Radprogramm unterstützt. Ungefähr zu der Zeit war der damalige Präsident Dmitri Medwedew auch zu Besuch Kopenhagen und sagte in einer Rede: "Ich würde es toll finden, auch in Russland so viele Radfahrer zu sehen."

Und dann wurde alles besser?

Das war zumindest eine Starthilfe. Die Leute haben festgestellt, dass man sich auch anders fortbewegen kann. Wir sehen heute ein komplett anderes Moskau, auch wenn noch sehr viel zu tun ist. Es gibt die angesprochene Infrastruktur, die wächst, wenn auch langsam. Zum Beispiel haben wir eine ganz neue Radspur auf dem Boulevard-Ring rund um das Moskauer Zentrum.

Dort zeigt sich aber auch ein typisch russisches Problem. Anfangs gab es kaum Informationen. Die Stadt hat den Boulevard einfach geschlossen und angefangen zu bauen. Radfahrer waren sich sicher, dass es wieder keinen Radweg gibt. Autofahrer haben sich beschwert, dass es bestimmt einen Radweg gibt, dafür aber keine Parkmöglichkeiten und Fußgänger hatten Angst, dass die Fußwege verkleinert werden. Das Ergebnis ist eigentlich ganz ok für alle, aber an der Informationspolitik muss man arbeiten.

Diese zu stärken ist auch eine Aufgabe ihrer Organisation. Was machen Sie genau?

Wir sehen uns als Anwälte der Radfahrer. Wir veranstalten zum Beispiel Fahrradparaden. In Moskau sind diese in kurzer Zeit von 8.000 auf 40.000 Teilnehmer gewachsen. Mit diesen Paraden wollen wir vor allem zeigen, dass die Moskowiter mehr Rad-Infrastruktur brauchen. Und wir wollen den Leuten zeigen, dass es möglich ist, das Rad im Alltag zu nutzen.

Wir haben auch von vielen Teilnehmern gehört, dass sie danach angefangen haben, Wege mit dem Rad statt dem Auto zu erledigen. Denn man sieht die Stadt aus einem ganz anderen Blickwinkel. Zusammen mit dem Innenministerium haben wir auch einen nationalen Radfahrtag organisiert. Der findet mittlerweile in mehr als 100 Städten statt.

Ein weiterer großer Punkt ist unsere "Rad-zur-Arbeit"-Kampagne. Dafür arbeiten wir mit den Arbeitgebern zusammen. Und wir merken auch bei denen, dass sie etwas ändern wollen: denn Radfahrevents sind gut für das Betriebsklima und radelnde Mitarbeiter sind gesünder und produktiver. Mittlerweile nehmen mehr als 400 Firmen an der Kampagne teil.

Dennoch hängt das Interesse vor allem an der Infrastruktur und dem politischen Willen, diese auszubauen. Wie sieht es da aus?

Es ist etwas in Bewegung. Wir organisieren zum Beispiel seit Jahren einen großen Fahrradkongress in Moskau. Dort bringen wir Politiker, Stadtplaner und Aktivisten zusammen. Das gab es vorher nicht. Die diskutieren dann gemeinsam, welche Probleme es gibt und wie man diese angehen kann. Jedes Jahr nehmen mehr Mitarbeiter von Stadtverwaltungen teil. Und diese Leute werden inspiriert und wollen wirklich etwas ändern.

Und dafür brauchen wir alle: die Stadtverwaltungen, die Aktivisten, die Unternehmen und die Medien. Letztere greifen das Thema aber noch sehr selten auf, wobei es besser wird. Aber es kommt immer noch vor, dass unser Fahrradkongress als „großes Sport- und Freizeitevent“ betitelt wird. Dabei geht es uns vorrangig um den städtischen Verkehr.

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Fahrradfahrer
Die vielseitigen Aktivitäten der Fahrradlobby tragen immer mehr Früchte. So verbindet inzwischen ein Radweg den Stadtrandbezirk Troyschnyna mit der City von Kiew. Bildrechte: Kyiv Cyclists’ Association

Ein Auto zu besitzen ist in Russland und anderen postsowjetischen Ländern immer noch ein immenses Statussymbol. Lässt sich das überhaupt so schnell ändern?

Es ändert sich bereits, vor allem in Großstädten wie Moskau und Sankt Petersburg. Das ist der gleiche Trend wie im Rest der Welt. Die Leute verstehen, dass ein Auto ihnen Zeit und Geld raubt und es andere Möglichkeiten gibt, sich in der Stadt zu bewegen. Es gab Selbstversuche in Moskau, in denen Leute ihr Auto verkauft und haben und nur noch mit Sammeltaxis gefahren sind. Selbst das war billiger. Und da reden wir noch nicht über den öffentlichen Nahverkehr, der fast kostenlos ist.

Die Wahrnehmung ändert sich also schon. Vor langer Zeit war Radfahren entweder eine Freizeitbeschäftigung oder etwas für arme Menschen und Studenten. Aber in Moskau sehen wir nun gutverdienende, gut angezogene Menschen, die Rad fahren. So zeigt eine unserer Studien, dass die meisten Teilnehmer an "Rad-zur-Arbeit"-Programmen Mitte 30 sind, gute Jobs haben und dennoch eine andere Art des Verkehrs bevorzugen.

Welchen Einfluss hat die Digitalisierung, die in Russland rasend schnell voranschreitet? Es gibt in Russland bereits Millionen Nutzer von Apps von so genannten "Sharing"-Diensten, wo man sich Fahrräder und Autos kurzfristig leihen oder Taxis teilen kann.

Durch diese Apps haben die Leute endlich andere Optionen als das eigene Auto. Moskau ist da natürlich der absolute Vorreiter. Nahezu jeder nutzt diese Apps. Und wenn es nur ist, um Abends ein preiswertes Taxi zu bestellen. Die Transportbehörde der Stadt arbeitet aber bereits an einer einzigen App, die alle Sharing-Systeme verbinden soll. Über die kann man sich dann sein Metroticket buchen, aber auch ein Auto mieten, ein Rad ausleihen oder sogar moderne Tretroller, die gerade immer populärer werden.

Die Strategie besteht darin, alle Transportmöglichkeiten zu kombinieren. Denn die großen Entfernungen schrecken viele Menschen davon ab, ein Rad zu nutzen. Aber wenn man einen Kilometer mit dem Mietrad zur Metro fahren kann, dann in die Stadt fahren und dort das nächste Rad ausleihen, bringt das mehr Leute aufs Rad. Ein neues Projekt sind auch Expressbusse, die die weit entfernten Vororte mit dem Stadtzentrum verbinden. In denen kann man sein Rad einfach mitnehmen. Das wird viel verändern.

Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: TV | 10.08.2018 | 17:45 Uhr