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Heute im Osten

Das neue russische Kosmodrom Wostotschny

28. April 2016, 11:26 Uhr

Seit dem 28. April 2016 ist das Kosmodrom Wostotschny in Betrieb. Ob damit alle Probleme des neuen Weltraumbahnhofes gelöst sind, bleibt jedoch fraglich.

Wenn es um russische Raumfahrt geht, muss unweigerlich der Name Baikonur fallen. Der legendäre und lange Zeit geheime Weltraumbahnhof in der kasachischen Steppe steht wie kein zweiter Ort für die Erfolge sowjetischer Raumfahrt. Von hier aus startete am 12. April 1961 Jurij Gagarin zu seinem ersten Flug ins Weltall. Doch nach dem Zerfall der Sowjetunion befand sich dieses für Russland so wichtige Objekt plötzlich auf fremdem Territorium eines unabhängigen kasachischen Staates.

100 Millionen Euro Pacht

Zwar hat Russland noch das Kosmodrom Plesetzkij, in der Nähe von Archangelsk, doch dieses ist auf militärische Nutzung zugeschnitten und bietet keine Möglichkeiten für bemannte Starts ins All. Zudem gibt es auch keine hundertprozentigen Garantien, dass die aktuell sehr guten Beziehungen zwischen Russland und Kasachstan auch bis 2050 so bleiben. Denn so lange möchte Russland Baikonur noch nutzen. Einen entsprechenden Vertrag unterschrieben der russische Präsident Wladimir Putin und sein kasachischer Amtskollege Nursultan Nasarbajew im Jahr 2004. Die Pachtsumme wurde dabei auf rund 100 Millionen Euro jährlich festgelegt.

Doch in Kasachstan mehren sich Stimmen, die eine solche Summe für zu klein halten. Experten und Aktivisten weisen auf gravierende Umweltschäden im Zusammenhang mit den Starts und den zahlreichen Abstürzen russischer Raketen über der kasachischen Steppe hin. Allein vom Typ Proton, mit dem hochgiftigen Treibstoff Heptyl im Tank, stürzten seit 1967 48 Raketen ab. Eine nachhaltige Bereinigung der Folgen würde weit mehr Mittel und Anstrengungen erfordern als die Summen, die von russischer Seite dafür aufgewendet würden.

Auch der russische Luft- und Raumfahrtexperte Vadim Lukaschewitsch hält unter diesen Umständen den Bau eines nationalen Kosmodroms mit vielfältigen Möglichkeiten für notwendig. "Für Russland ist es eine Prestigefrage. Es ist eine Frage der nationalen Sicherheit", konstatiert er in einem Interview mit HEUTE IM OSTEN im März 2016. "Denn es braucht die Möglichkeit bemannter Weltraummissionen vom eigenen Territorium aus, die vollständig kontrolliert werden können und nicht mit anderen abgestimmt werden müssen."

Jahrhundertbaustelle mit Hindernissen

Schon kurz nach der Jahrtausendwende begann man in Russland deswegen mit der Suche nach einem geeigneten Ort auf eigenem Territorium. 2007 entschied sich eine Kommission aus Vertretern der russischen Raumfahrtagentur Roskosmos, des Verteidigungsministeriums sowie des Sicherheitsrats der Russischen Föderation dann für die Amur-Region im Fernen Osten Russlands unweit der chinesischen Grenze. Genauer gesagt: Für das Gelände des ehemaligen Militärkosmodroms Swobodny, das von 1996 bis 2007 existierte, jedoch kaum genutzt wurde. Dies sei der perfekte Standort, stellten die Experten fest. Sowohl das Territorium unter den Startrouten der Raketen als auch das Absturzgebiet der ausgebrannten Trägerstufen seien extrem dünn besiedelt. Man wolle dort einen ökologisch sauberen und hochmodernen Weltraumbahnhof bauen, der allen Anforderungen russischer Raumfahrt entsprechen würde. Die Entstehung einer Wissenschaftsstadt mit hochqualifizierten und gutbezahlten Arbeitsplätzen in unmittelbarer Nähe soll zudem dem Aufbau der gesamten Region dienen.

Ursprünglich sollte das Kosmodrom 180 Milliarden Rubel, umgerechnet nach heutigem Kurs rund 2,64 Milliarden Euro kosten. Doch bereits 2009 sprach man von mehr als einer Verdopplung der ursprünglichen Summe. Der eigentliche Bau von Wostotschny begann schließlich 2011. Bereits für Dezember 2015 planten die Verantwortlichen den ersten unbemannten Start. 2018 sollte dann eine bemannte Mission starten können. Allerdings war auch hier bald klar, dass die Fristen nicht gehalten werden können.

Der Druck wächst

Spätestens 2014 erhöhte sich der Druck auf das Prestigeprojekt endgültig. Mit der Annexion der Krim und seiner Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine hat sich Russland in internationale Isolation begeben. Westliche Sanktionen sorgen dafür, dass die russische Raumfahrtbranche keine Spezialhardware, insbesondere Mikroelektronik und optische Systeme in Europa und den USA einkaufen kann. Der dramatisch gefallene Ölpreis sorgte für zusätzliche Probleme in der gesamten russischen Wirtschaft.

Am 22. Mai 2014 ließ Präsident Putin bei einer Videokonferenz die Bauverantwortlichen wissen: "Der Bau des Kosmodrom Wostotschny ist nicht nur für die Regionen Ostsibirien und den Fernen Osten ein enorm wichtiges Projekt, sondern hat zweifelsohne auch eine gesamtnationale Bedeutung." Bei einem Besuch der Baustelle im September desselben Jahres wurde ihm offiziell mitgeteilt, dass es Verzögerungen von bis zu 55 Tagen geben würde. Putin reagierte, ordnete umfangreiche Umstrukturierungsmaßnahmen an und übergab die Verantwortung für das Projekt dem stellvertretenden Premierminister Dmitrij Rogosin. Dieser versprach alle Fristen zu halten und auf der Baustelle für Ordnung zu sorgen.  

Korruption und Misswirtschaft

Zu tun gab es da mehr als genug: Statt ein Vorzeigeprojekt des modernen Russlands zu werden, wurde der Bau von Wostotschny zum Vorzeigebeispiel der allgegenwärtigen Korruption in der russischen Wirtschaft. Insbesondere da, wo es um Staatsaufträge geht. Die beauftragten Subunternehmer bekommen nämlich umfangreiche Vorauszahlungen, die sie nicht immer dort ausgeben, wo das Geld eigentlich hin soll. Stattdessen werden eigene Schulden beglichen, große Summen in kurzlebige Briefkastenfirmen überführt und dann als Bargeld entwendet oder schlicht teuere Geschenke für Liebschaften gekauft. Der Geschäftsführer eines der beteiligten Unternehmen soll 400 Millionen Rubel in ein privates Bauprojekt eines Einkaufszentrums investiert haben, wohl in der Hoffnung, dass sich das Investment schnell auszahlt (was es nicht tat). Bisher wurden über 20 Strafverfahren wegen Bestechung und Veruntreuung eröffnet, Dutzende weitere sind in Vorbereitung. Schon Mitte 2015 sprach der russische Generalstaatsanwalt Jurij Tschaika von einem möglichen Schaden für die Staatskasse in Höhe von 7,5 Milliarden Rubel, was selbst nach dem heutigen schwachen Rubelkurs noch immer eine Summe von 110 Millionen Euro bedeutet.

Einen vorläufigen Höhepunkt erreichten die Skandale rund um Wostotschny, als im März 2015 die Arbeiter streikten und manche sogar die Nahrungsaufnahme verweigerten. Der Grund: monatelang ausstehende Löhne. Die Baufirmen schuldeten ihren Angestellten zu diesem Zeitpunkt rund 120 Millionen Rubel. Beim traditionellen "direkten Draht" zwischen russischen Bürgern und Wladimir Putin am 16. April 2015 wendeten sich die Arbeiter in dieser Sache direkt an ihren Präsidenten. Der versprach die Angelegenheit unter eigene Kontrolle zu nehmen. Auch hier folgten Verhaftungen. Und schon Anfang Mai konnte Rogosin vermelden, dass alle Löhne ausgezahlt wurden. Die Situation kommentierte er mit den Worten: "Drei (Bauunternehmer; a.d.R) sind ins Gefängnis gegangen, zwei wurden rausgeschmissen, alle anderen haben gleich angefangen Löhne zu zahlen. Wenn man sich nicht selbst um alles kümmert, passiert da gar nichts."

Nur eine Fassade?

Ende März 2016 kam dann die gute Nachricht: Nach erfolgreichen Tests setzte man den ersten Raketenstart auf Ende April fest. Besonders stolz ist man dabei auf die hochmoderne Startrampe. Auf Schienen kann sie die aufgestellte Rakete vollständig "umarmen" und garantiert so komfortable Arbeitsbedingungen bei der Startvorbereitung in den harten klimatischen Bedingungen. Doch trotz allem Optimismus, den die Verantwortlichen im Moment zu verbreiten suchen, bleibt Lukaschewitsch skeptisch. Er fürchtet, Wostotschny könnte zu einer Art Fassade werden. "Ursprünglich war es etwas anders geplant. Aber aus einer ganzen Reihe von Gründen, darunter auch wirtschaftlichen, wird die erste Bauphase heute in einer deutlich verkleinerten Variante gebaut," sagt er. 

Am ursprünglichen Zeitplan möchte Roskosmos dennoch weiter festhalten. Auch wenn dort verkündet wurde, dass der erste Start für die nächsten zwei Jahre auch der einzige bleiben soll. Erst 2018 soll Wostotschny in vollem Umfang in Betrieb genommen werden. Offenbar ist doch noch eine Menge zu tun auf der russischen Jahrhundertbaustelle.

Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im TV:MDR | 21.04.2017 | 19:30 Uhr