Zsolt Lengyel
Zsolt K. Lengyel Bildrechte: Zsolt Lengyel

Ungarn Wirtschaft oder Demokratie?

01. Februar 2019, 16:02 Uhr

Laut einer Umfrage soll vielen Ungarn eine starke Wirtschaft und ein starker Führer wichtiger sein als Demokratie und Parlamentarismus. Wie sind diese Ansichten zu bewerten? Ein Gespräch mit dem Historiker Zsolt Lengyel.

Nach einer Umfrage der Heinrich-Böll-Stiftung 2014 ist 73 Prozent der Ungarn eine "starke Wirtschaft" wichtiger als "Demokratie". Wie bewerten Sie diese Aussage?

Der Wunsch nach einer starken Wirtschaft schließt den Wunsch nach einer funktionierenden Demokratie keineswegs aus. Das ist auch in Ungarn so. Die Frage, ob Demokratie oder Wirtschaft wichtiger sei, halte ich für eher konstruiert.

Aber es kommt ja klar zum Ausdruck, dass eine "starke Wirtschaft" durchaus Priorität hat.

In Ungarn gibt es allerdings eine andere Auffassung darüber, was man im Westen als liberales Wirtschaften bezeichnet. Die übermäßige Freiheit, die Liberalität in der Finanzwirtschaft beispielsweise, hat einen schlechten Ruf in Ungarn. Einen deutlich schlechteren als in Deutschland. Das stimmt schon. In Ungarn ist man mehrheitlich der Auffassung, dass der Staat sich nicht aus der Wirtschaftspolitik verabschieden darf. Andernfalls würde er dieses Feld gänzlich diversen Einzelinteressen überlassen.

In der Studie heißt es weiterhin, dass knapp die Hälfte der Ungarn einen "starken Führer" für wichtiger hält als "Demokratie"…

Das halte ich ebenfalls für konstruiert. Zudem erzeugt der Begriff "Führer" ein gewisses Unbehagen. Machen wir uns nichts vor: Es gibt überall, auch in den westlichen Demokratien, Regierungen, die sich um eine Führerfigur herum gruppieren. Das ist in Deutschland auch nicht anders, denken Sie an Helmut Kohl, der 16 Jahre regierte, oder auch an Angela Merkel, die auch schon seit gut elf Jahren an der Macht ist. Starke Führerpersönlichkeiten sind auch in Demokratien nichts Ungewöhnliches.

2015 verkündete der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban immerhin, die liberale Demokratie in seinem Land abschaffen zu wollen. Stattdessen solle eine "illiberale Demokratie" in Ungarn entstehen...

Ja, das Wort "illiberal"... Die Verwendung dieses Begriffes hat zwei Funktionen bei ihm. Einmal innenpolitisch, der Begriff kommt gut an bei vielen Ungarn. Und zweitens ist er schlicht - Programm. Dass nämlich ein illiberaler Staat kein undemokratischer Staat sei, sondern einer, so Orban, in dem die Wirtschaftspolitik nicht gänzlich in die Hände von wenigen gelegt werden darf. Dieses Programm Orbans hat mittlerweile Anhänger auch in Westeuropa - es gibt Zweifel an der Auffassung, dass in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft "liberal" das einzige Ziel sein kann. In der Wirtschaft müsse der Staat zum Beispiel immer mitspielen. Der Gegensatz ist der zwischen liberaler und gesteuerter Wirtschaftspolitik. - Es ist ein alter Streit, ob Demokratie ohne Liberalität auskommen kann. Manche meinen, ja, das sei möglich. Ja, sogar nötig, in der Banken- und Finanzpolitik etwa.

Gegenbewegungen zu liberalen Werten sind gegenwärtig europaweit zu konstatieren. Das ist durchaus kein osteuropäisches Phänomen.

Genauso verhält es sich.

Lässt sich die Ansicht der Ungarn auch durch die Geschichte ihres Landes erklären?

Sicher. Es gab immerhin mehr als 40 Jahre staatlicher Bevormundung. Aber anders als etwa in Rumänien oder der UdSSR ist der Sozialismus ungarischer Prägung, der Kadarismus, in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von vielen Menschen keineswegs als ausschließlich furchtbar oder grausam erlebt worden. Der Staat gab ihnen eine gewisse Geborgenheit. Es gibt ja auch das mittlerweile geflügelte Wort von Ungarn als der "lustigsten Baracke der sozialistischen Staaten". Und viele der Menschen, die diese Jahre erlebt haben, sind noch unter uns. Und deren Haltung zum Staat ist mit dem Systemwechsel 1989 ja nicht ausgestorben.

Ein Umstand, den Viktor Orban sich zunutze macht…

Den nutzt Orban in der Tat geschickt. Er geht den Weg des Populisten, der viele aus dem Volk hinter sich bringen will. In Westeuropa herrscht, grob gesagt, eine Elitendemokratie. Und diese Elitendemokratie hat sich in Ungarn und auch in anderen osteuropäischen Ländern nicht durchgesetzt.

Insgesamt erlebe ich im Moment keinen Streit zwischen Antidemokraten und Demokraten. Sondern einen Streit zweier Arten von Demokraten, zweier Formen der Demokratie.

Prof. Dr. Zsolt K. Lengyel, 1960 geboren, ist Historiker und Politologe; seit 2015 ist er Direktor des Ungarischen Instituts der Universität Regensburg.