Belarus von innen Wählen oder nicht? Sofi sagt "Nein"

09. September 2016, 15:13 Uhr

Am Sonntag, 11. September 2016, wählt Belarus - oder landläufig "Weißrussland" - ein neues Parlament. Die Journalistin Sofi* (Name geändert) wird nicht wählen gehen. Sie verspricht sich davon nichts in einem Land, in dem nach ihrer Beobachtung alle Wahlen seit 2001 undemokratisch abliefen.

Ich bin 23. Vor gerade drei Jahren habe ich erfahren, wofür ein  Parlament da ist. In einem Land, in dem der Präsident so etwas wie  Gott oder zumindest der Vater der Nation ist, nimmst du dieses Organ der Legislative eher als eine Sache aus dem Lehrbuch wahr. Vor drei Jahren passierte in meinem Leben eine große innere Revolution: Zufällig fand ich ein Programm der deutschen Arbeitsagentur, wo Ferienbeschäftigungen in Deutschland für ausländische Studenten vermittelt wurden.

In Deutschland: Entdecke die Möglichkeiten!

Es wurden zwei Monate der nicht aufhörenden Selbstüberwindung. Das Mädchen, das seit so vielen Jahren Klavier spielte, so viele Bücher las, schon als beginnende Journalistin tätig war, arbeitete als Putzfrau. Aber es waren die glücklichsten Monate meines Lebens. Denn ich verstand, dass alles ganz anders sein kann. Erstmals seit meiner Kindheit fühlte ich, dass ich so sein konnte, wie ich bin – und nicht so, wie "das System" es von mir verlangte. In Belarus ist das Leben programmiert: Schule (bis 17 Jahre), Uni (bis 22 Jahre), Arbeit (bis zum Ende). Mir wurde nun plötzlich bewusst, dass ich viel mehr Möglichkeiten habe!

Zum Beispiel: "Demonstrieren", wenn man gegen etwas ist. In München hab ich erstmals gesehen, wie die Leute protestieren. Das war eine Demo von Türken, die mit etwas nicht zufrieden waren (ich hab letztendlich nicht verstanden, womit genau). Es gab viele Leute, die nichts Gefährliches gemacht haben, aber sie hatten die Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit zu äußern. Wie geht das bei uns in Belarus? 2011 gab es sehr rasche und starke Preiserhöhungen. Einige Menschen sind damals durch die Straßen gelaufen und haben geklatscht, um ihren Protest zu äußern. Das waren sogenannte "schweigende Protestaktionen". Das hat ein paar Tage gedauert. Was ist danach passiert? Viele Leute wurden verhaftet oder bestraft. Geändert hat sich nichts.

Oder: "Freiheit"! Das ist schwer zu beschreiben, aber wichtig. Das Verhalten, das Benehmen ist anders. Wann Du offener wirst, keine Grenze empfindest und weißt, dass Du alles schaffst. Ich weiß nicht, wie ich das konkret darstellen kann. Vielleicht sind es Kleinigkeiten: Darfst du einfach irgendwo auf dem Gras sitzen, ohne dass ein Polizist dich anspricht?

Oder: "Arbeiten und Geld verdienen": Eigentlich denkt man, wenn man gut und fleißig arbeitet - wie bei uns zu Hause -, dann bekommt man einen guten Lohn. Ich erinnere mich an das Gefühl damals bei meinem Aufenthalt in Deutschland, als ich verstanden habe, wieviel ich als Putzfrau in Deutschland verdiene - und wie wenig Geld meine Eltern bekommen. Mein Vater ist Ingenieur, Mama ist Lehrerin.

80 Prozent Wahlbeteiligung ohne Schlangestehen

Nachdem ich wieder heimkam, begann ich, nach diesen Möglichkeiten zu suchen. Und, oh Wunder: Ich entdeckte, dass es in Belarus viele verantwortliche, kritische, fleißige, ehrlich arbeitende und zu Veränderungen bereite Leute gibt, die genauso wie ich nach diesen Möglichkeiten suchen. Es geht um eine andere Zukunft! Und es soll mindestens jeder Dritte hier in Belarus sein, für den das die größte Hoffnung ist.

Ich bin mir bewusst, dass ich und meine Altersgenossen alle Chancen haben, wieder zur verlorenen Generation zu werden. Aber darüber mache ich mir keinen Kopf, schließlich bin ich jung, voller Energie – und ja, eigentlich auch mutig. (Der schönste Schmuck der Jugend ist die Kühnheit - habe ich mal gelesen) Deshalb, das wird jetzt absurd klingen, freue ich mich, dass diese Wahl so stattfindet, wie sie stattfinden wird. Schließlich gilt es als unsere nationale Eigenschaft, nach dem Besten im Schlechten zu suchen. Ok – Russen und Ukrainer behaupten das ebenfalls von sich.

Aber trotzdem: Dass jetzt Wahlen sind, heißt für mich: Die Anhänger des Präsidenten und die Geheimdienste haben ganz andere Sorgen, als sich mit mir und meiner Sehnsucht nach all den Möglichkeiten, die ich beschrieben habe, zu beschäftigen. Sie müssen sich beispielsweise ausdenken, warum Ales Lahvinec, einer der führenden oppositionellen Köpfe, nicht als Kandidat registriert werden darf. Wie man die Konzerte von Ljawon Wolski verbietet, der sich seit Jahren gegen das Regime einsetzt. Wie man Studenten einschüchtert, damit sie vorfristig abstimmen. Oder was man eben sonst so macht, damit die Wahlbeteiligung nicht unter 80 Prozent liegt. Diese Zahl ist bei unseren Machthabern irgendwie heilig. Staatstheater, nenne ich das.

Als ich 2014 an einem Seminar über Parlamentswahlen in der EU teilnahm, hörte ich, dass die Wahlbeteiligungen in Europa oft nicht einmal 40 Prozent übersteigen. Ich glaubte das nicht. Denn von jedem Wahltag sah ich lange Schlangen von Menschen, die ihre Stimme abgeben wollten. So etwas habe ich hier in Belarus nie gesehen. Obwohl, wie gesagt, 80 Prozent die "heilige Zahl" ist. Während das Staatstheater in seiner Realität lebt und nach ihm selbstverständlichen Regeln spielt, schaffe ich mir meine Wirklichkeit. Ich gehe zu Studenten, die ich versuche, so zu unterrichten, wie ich es bei meinem späteren Studium in Deutschland erlebt habe. Ich organisiere eine Sommerschule, wo wir mit sehr begabten, erfolgreichen Absolventen an einem Alumni-Netzwerk arbeiten. Als Online-Redakteurin veröffentliche ich Nachrichten und Artikel, damit andere Jugendliche aus Belarus die gleichen Ausbildungsmöglichkeiten haben, ins Ausland gehen können. Und ebenfalls diese Möglichkeiten erleben können.

Warum bleibe ich in Belarus?

Und nun - bin ich mir nicht sicher, ob ich für diesen Text bestraft werde. Wählen gehe ich trotzdem nicht. Warum? Weil ich an diesem Theater - oder eigentlich an dieser Lüge - nicht teilnehmen will. Ich will ehrlich und relativ frei leben. Es ist schon genug, dass ich ein Teil eines Staates mit diesem absurden Theater bin. "Warum bleibst du dann in Belarus?" Das ist genau die Frage, die ich nicht vertragen kann. Es mag naiv klingen, aber … ich liebe mein Land und seine einzigartigen Menschen. Ich gehöre zu diesem Land. Wenn ich auch noch gehe, bleibt ja eine noch kleinere Zahl hier zurück, die sich gesellschaftlich engagiert. Aber ich fühle, dass mein Land irgendwie nicht zu mir gehört. Und ich bin nicht sicher, ob es mich braucht. "Da bin ich fremd und hier bin ich fremd", singt Ljawon Wolski. Das klingt hart, aber das ist meine Wahrheit.