Zehn Jahre Schengen-Erweiterung: Wohin steuert Europa?

21. Dezember 2017, 09:56 Uhr

Am 21. Dezember 2007 traten acht osteuropäische Staaten und Malta dem Schengen-Abkommen bei. Das "grenzenlose Europa" wurde so Realität. Obwohl sich damalige Ängste nicht bestätigt haben, ist die Idee heute in Gefahr.

2007, kurz vor Weihnachten in Frankfurt an der Oder: Tausende Deutsche und Polen stoßen unter Konfettiregen und Feuerwerk auf der Oderbrücke gemeinsam an. Zwischen Österreich und Ungarn passieren hunderte Autos hupend und ohne kontrolliert zu werden die Schlagbäume. Nahe Triest in Italien tanzen junge Slowenen mit ihren Nachbarn um ein verlassenes Grenzerhäuschen.

„Schönster Tag meines Lebens“

Am jenem 21. Dezember 2007 fielen auf einen Schlag die Grenzen der „alten“ EU-Staaten zu neun Neumitgliedern, die der Europäischen Union 2004 beigetreten waren: Die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien und Malta waren auf einmal Teil des Schengen-Raums. 400 Millionen Menschen lebten nun in jenem Kerneuropa, in dem Bürger, Waren und Dienstleistungen ohne Kontrollen hin und her reisen können.

"Heute haben die Bürgerinnen und Bürger durch 24 Länder freie Fahrt. Diejenigen, die etwas älter sind, wissen, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist", erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ihrer Festrede in Frankfurt recht trocken. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hingegen nannte die größte Erweiterung des Schengen-Raums "den schönsten Tag" seines Lebens. Für ihn sei Bewegungsfreiheit eines der höchsten Menschenrechte.

Das Schengen-Abkommen Das erste Schengener Abkommen ("Schengen I") wurde am 14. Juni 1985 zwischen den Benelux-Staaten, Frankreich und Deutschland geschlossen. Darin vereinbarten die fünf EU-Staaten perspektivisch auf Kontrollen des Personenverkehrs an ihren gemeinsamen Grenzen zu verzichten. Es ist nach der Gemeinde Schengen im Großherzogtum Luxemburg benannt, wo es unterzeichnet wurde.

Erst kurz vor der deutschen Wiedervereinigung wurde 19. Juni 1990 "Schengen II" verabschiedet, festlegt, wie die Abschaffung der Grenzen durchgeführt werden soll. Es trat schließlich am 26. März 1995 in Kraft.

Am 27. Mai 2005 wurde zwischen den Schengen-Staaten mit "Schengen III" eine verstärkte polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit beschlossen, die unter anderem der Terrorabwehr dient.

Heute umfasst der Schengen-Raum 26 Staaten mit insgesamt 420 Millionen Einwohnern.

Ängste und Befürchtungen auf beiden Seiten

So überschwänglich war die Stimmung vor der Grenzöffnung nicht bei allen, gerade in Sachsen. In dem Bundesland mit einer 560 Kilometer langen Ostgrenze grassierte vielerorts die Angst vor einer zunehmenden Kriminalität durch Diebe, Schleuser und Drogenhändler aus den Nachbarländern Polen und Tschechien.

Doch auch auf der anderen Seite gab es Vorbehalte. Seit der EU-Osterweiterung drei Jahre zuvor kämpften die Neumitglieder wie Tschechien und Polen gegen die massenhafte Abwanderung aus ihren Ländern in den Westen der EU, insbesondere durch hochqualifizierte junge Menschen.

Zehn Jahre später zeigt sich ein vielschichtiges Bild. Die Ängste vor einer massenhaften illegalen Einwanderung und Kriminalitätsimport aus dem Osten haben sich nicht bestätigt. Dafür sorgt auch die neue High-Tech-Überwachung an den Grenzen zur Ukraine und Serbien, den jetzigen Schengen-Außengrenzen. Hier soll auch das digital vernetzte Schengen-Informationssystem helfen, bei dessen Ausbau ausgerechnet Deutschland hinterherhinkt.

Kriminalität: Schengen oder Strukturschwäche als Grund?

Dennoch kämpfen gerade die grenznahen Regionen mit einer erkennbar erhöhten Kriminalität, insbesondere bei Diebstahl- und Drogendelikten. Jedoch betrifft das beide Seiten der Grenze. So haben westpolnische Regionen genauso stark mit Diebstahlsdelikten zu kämpfen, wie Ostsachsen. Kriminalität ist hier ein grundsätzliches Problem der eher strukturschwachen Regionen.

Hinzu kommen viele Delikte, die von der Polizei nahe der Grenze festgestellt werden, die aber an anderen Orten verübt worden sind. Das geschieht vor allem bei Fahrzeugkontrollen auf Autobahnen wie der A4. Ähnlich sieht es bei der Drogenkriminalität zwischen Sachsen und Tschechien aus. Auch hier treiben die allgemeine Strukturschwäche der grenznahen Regionen und die Transitkriminalität die Statistiken nach oben.

Dennoch reagieren die Sicherheitskräfte. Gemeinsame Polizeikontrollen nahe der tschechisch-deutschen Grenze haben den Drogenhandel erheblich vermindert. Neue Polizeikonzepte sollen auch an der polnischen Grenze Abhilfe schaffen. So entsteht 2018 eine neue gemeinsame Dienststelle von deutscher und polnischer Polizei. Ähnliche Konzepte gibt es bereits seit einigen Jahren.

Positivbeispiele: „Human-Kapital-Transfer“ und Handelsbilanz

Auch der befürchtete "Brain Drain", die Abwanderung gut ausgebildeter junger Menschen aus den neuen Schengen-Mitgliedsstaaten in die alten, war auf lange Sicht nicht so dramatisch wie befürchtet. In Polen nahm die Auswanderung in der Tat bereits seit dem EU-Beitritt 2004 sprunghaft zu - teilweise lebten drei Millionen Polen im europäischen Ausland.

Im Schnitt kehrten sie jedoch bereits nach zwei Jahren in ihre Heimat zurück. Da die meisten während dieser Zeit dauerhaft gearbeitet hatten, brachten sie Erfahrungen und Ideen mit zurück, wovon die heimische Wirtschaft profitiert. Dieser wissenschaftlich "Human-Kapital-Transfer" genannte Prozess hat im Fall Polen für ein außerordentliches Wirtschaftswachstum gesorgt.

Am Beispiel Polen zeigen sich auch die gesamtwirtschaftlichen Vorteile der Grenzöffnung. So hat sich das Handelsvolumen zwischen Deutschland und Polen innerhalb eines Jahrzehnts fast verdoppelt und 2016 erstmals über 100 Milliarden Euro betragen. Polen liegt dadurch mittlerweile auf Platz acht der wichtigsten Handelspartner Deutschlands. Dabei liefert das Land fast genauso viele Waren und Dienstleistungen nach Deutschland, wie es von hier importiert, eine Seltenheit in den deutschen Handelsbeziehungen.

Ende von Schengen, Ende von Europa?

Heute kommen andere Herausforderungen auf das Schengen-System zu. Mit der Zunahme der Asylsuchenden aus Nordafrika und dem Nahen Osten nach dem "Arabischen Frühling" wurden die Grenzkontrollen bereits 2011 von Dänemark teilweise wieder eingeführt. Schon damals warnten Politiker vor einem "Ende von Schengen".

Seit 2015 kontrollieren mehrere Schengen-Mitglieder zumindest teilweise wieder ihre Außengrenzen. Dazu gehören Norwegen, Schweden, Dänemark, Frankreich, Österreich und Deutschland. Dies ist laut aktuellem EU-Recht sechs Monate möglich und kann insgesamt auf maximal zwei Jahre verlängert werden. Die aktuelle Periode läuft noch bis zum Mai 2018.

Doch bereits im Spätsommer 2017 stellte die EU-Kommission eine Initiative vor, die es erlauben würde, mindestens ein bis maximal drei Jahre kontrollieren zu dürfen. Der Vorschlag liegt noch unter den vier Jahren Maximaldauer, die zwei Staaten gefordert haben. Es waren zwei der Gründungsmitglieder des Schengen-Abkommens: Frankreich und Deutschland.

Über dieses Thema berichtete MDR auch im Radio: MDR AKTUELL | 12.10.2017 | 12:56 Uhr