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Regisseur Christian Schwochow bei der Premiere seines Kinofilms "Je suis Karl", ein spannender Politthriller über die neue Rechte. Bildrechte: imago images/Future Image

Offener Brief an die BundesregierungRegisseur Christian Schwochow: "Wir müssen Asyl gewähren"

06. Juni 2023, 15:43 Uhr

Über 100 Prominente haben sich in einem offenen Brief an die Bundesregierung gewandt, um vor einer Beschneidung des europäischen Asylrechts zu warnen. Über eine Reform wird am Donnerstag im EU-Parlament diskutiert. Protest kommt von Herbert Grönemeyer, der Chemnitzer Band Kraftklub, Autorin Sybille Berg oder Schauspielerin Katja Riemann. Mit Christian Schwochow hat auch einer der renommiertesten Regisseure des Landes (Bornholmer Straße, Der Turm, NSU-Trilogie, Bad Banks, The Crown) unterschrieben. Warum, erklärt er im MDR KULTUR-Interview.

MDR KULTUR: Wie ist es zu diesem offenen Brief an die Bundesregierung gekommen?

Christina Schwochow, Regisseur: Die Organisation LeaveNoOneBehind hat diesen Brief initiiert und sich dann an Künstler und Künstlerinnen gewandt. Beispielsweise an Herbert Grönemeyer oder Klaas Heufer-Umlauf, die dafür bekannt sind, dass sie sich immer wieder in Debatten einmischen. Das geht dann relativ schnell, man kennt sich untereinander, der Brief wird weitergeleitet und man ermuntert andere zu unterzeichnen. So kommt in kurzer Zeit eine recht beachtliche Liste zustande, weil viele von uns besorgt sind, was in der Migrationspolitik der Bundesregierung gerade zu passieren droht.

EU-Asylreform

Was besorgt Sie?

Das ist vielfältig. Ich habe mich für meine Filme über den NSU oder "Je suis Karl" immer wieder mit dem Rechtspopulismus auseinandergesetzt, und damit, wie sich im Diskurs ultrarechte Positionen in die Mitte der Gesellschaft verschieben. Ich habe für "Je suis Karl", den wir 2019 gedreht haben, sehr viel zu populistischen Parteien in Europa, aber auch vorparlamentarischen Jugendorganisationen wie den Identitären recherchiert, die damals sehr lautstark von einer Festung Europa geträumt haben, sprich von der totalen Abschottung: "Wir lassen niemanden mehr rein. Wir bilden im Prinzip so nach Trumpschen Vorbild einen großen Zaun, eine große Mauer um Europa." Das war damals eine ziemlich extreme Position. Und mittlerweile habe ich das Gefühl, das gilt überhaupt nicht mehr als so extrem und in vielen europäischen Regierungen spricht man auch genau das aus und wünscht sich das.

In der ARD-Serie "Mitten in Deutschland" zeichnet Christian Schwochow die Anfänge der rechtsterroristischen Vereinigung Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) nach. Bildrechte: SWR/Stephan Rabold

Als die neue Bundesregierung der Ampel angetreten ist, hat sie sehr positive, fortschrittliche Worte dafür gefunden, welche Position sie in der Migrationspolitik einnehmen und wie sie versuchen wird, auch die damit verbundenen Probleme zu lösen. Jetzt hat man das Gefühl, der Bundeskanzler möchte eigentlich vielem von dem zustimmen, was man sich in den anderen EU-Staaten wünscht. Und das setzt sehr stark auf Abschottung, Ausweitung der sicheren Drittstaaten, das heißt auch, dass Geflüchtete aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan es sehr viel schwerer haben, den Weg nach Europa zu finden.

Und das finde ich sehr besorgniserregend, weil wir diese Menschen gar nicht mehr sehen. Und das große Leid, was dort passiert an den Außengrenzen, diese unhaltbaren Zustände, die nehmen wir hin. Das hat natürlich viele Gründe, warum es so eine Ablehnung gerade jetzt in Deutschland wieder gibt. Aber mich besorgt das sehr.

Ich versuche mal, den Gedanken des Populismus aufzugreifen und ein bisschen zu drehen. Ich nehme an, dass nicht wenige Politikerinnen und Politiker sagen: Wenn wir jetzt ein sehr, sehr liberales Asylrecht in Kombination mit sehr, sehr vielen Geflüchteten aus der Ukraine laufen lassen, dann werden die Kommunen noch lauter ächzen. Und noch mehr Menschen werden unzufrieden sein und möglicherweise zu populistischeren Tendenzen wechseln, obwohl sie die eigentlich gar nicht vertreten. Sehen Sie die Möglichkeit?

Natürlich gibt es die Möglichkeit, das so zu drehen. Aber dass wir uns am Ende abschotten und sagen: Das ist nicht unser Problem, sondern die Migration ist das Problem. Das finde ich keine sehr humanistische Haltung, sondern zutiefst unmenschlich. Und insofern, glaube ich, müssen wir darüber nachdenken.

Die Ampel verliert gerade enorm an Zustimmung. Und natürlich folgt man in so einer Situation dann sehr häufig den Themen, die die Opposition vorgibt. Migration funktioniert immer. Wir hatten im letzten Jahr viele Geflüchtete aus der Ukraine, eine enorme Solidarität in der Bevölkerung. Es war ganz klar, wir helfen diesen Menschen ähnlich wie 2015. Und ein Jahr später kehrt sich das total um, und wir wollen eigentlich niemanden mehr reinlassen. Ich finde das irgendwie menschlich nachvollziehbar und trotzdem zutiefst falsch. Wir müssen helfen. Wir sind eines der reichsten Länder, und wir müssen es auch aushalten, uns Populisten entgegenzustellen.

Natürlich ächzen die Kommunen, aber müssen wir nicht versuchen, dann dort zu unterstützen und Systeme schaffen, dass Migration und Integration einfach anders funktioniert, dass man die Menschen schneller in den Arbeitsmarkt bekommt, dass man nicht nur sagt: Wir wollen Fachkräfte? Überall in Deutschland fehlen junge Auszubildende. Wie kriegt man das miteinander verbunden? Das ist schwer, das ist unheimlich hart. Aber ich glaube, dass wir über so etwas nachdenken müssen, anstatt zu sagen: Wir lassen keinen mehr rein.

Notunterkunft für Geflüchtete Bildrechte: IMAGO / Jochen Eckel

Verbunden mit dem offenen Brief ist auch ein Gesprächsangebot an die Bundesregierung. Was sollte bei so einem Gespräch herauskommen?

Es geht erstmal darum, überhaupt Positionen auszutauschen. Mein Eindruck war bei Gesprächen mit Politikern in den letzten Jahren, dass sie von der Lebenswirklichkeit vieler Menschen häufig sehr weit entfernt sind. Und ich glaube, dass Künstler und Künstlerinnen ganz gut darin sind, sich zu artikulieren. Ich würde jetzt gar nicht davon träumen, was da genau bei rauskommt, sondern finde, dass man überhaupt einander zuhört, wäre erstmal ein wichtiger Schritt.

Das Gespräch führte Thomas Bille. Redaktionelle Bearbeitung: Katrin Schlenstedt

Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 06. Juni 2023 | 08:10 Uhr