GastbeitragBitterfeld-Wolfen: Wie das Kunstfestival "Osten" in der Stadt nachwirkt
Der Bitterfelder Kulturpalast war im Juli das Zentrum des Festivals "Osten". Mit einem vielseitigen Programm hat das Kunstfestival erstmals zum Austausch über die Veränderungen in der Region seit der Wende eingeladen. 5.000 Besucher*innen haben die Chance genutzt, den Palast und Bitterfeld-Wolfen aus künstlerischer Perspektive (neu) zu entdecken. Welchen nachhaltigen Effekt hatte das Festival auf das Kulturleben in der Region? Ein Gastbeitrag von Ludwig Haugk, Teil der Künstlerischen Leitung.
Es ist der 11. September 2022. In einem Jugendclub im Bitterfelder Ortsteil Greppin treffen sich die Mitglieder des Festival-Projekts Werksorchester. Genau ein Jahr ist es her, dass die Schüler*innen der örtlichen Musikschule und erwachsene Laien aus Bitterfeld-Wolfen zum ersten Mal zusammengekommen sind, um gemeinsam Musik zu machen.
Das "Osten"-Festival in Bitterfeld
Was bedeutet "Osten" heute? Und wie lässt sich der gesellschaftliche und ökologische Wandel seit der Wende künstlerisch fassen? Mit diesen Fragen hat sich das Kunst-Festival "Osten" im Juli 2022 am Beispiel der Stadt Bitterfeld-Wolfen auseinandergesetzt.
Vom 1. bis 17. Juli haben mehr als 70 Produktionen rund um Theater, Workshops, Gespräche, Ausflüge und vieles mehr zum Austausch eingeladen. Schwerpunkt waren die Geschichte der Arbeit und ihre Spuren in der Landschaft.
In Anlehnung an das historische Arbeiter-Sinfonie-Orchester im Bitterfelder Kulturpalast hat der New Yorker Komponist Ari Benjamin Meyers ein Stück für ein Orchester geschrieben, das bei Null angefangen hat. Ein Orchester, in dem die Musikschüler*innen zu Lehrer*innen werden und Erwachsenen ohne Vorkenntnisse ihr Instrument beigebracht haben, ein Orchester der Begegnung und des Miteinander-Lernens. Aufgeführt haben sie ihre Performance, in der neben Musik die persönlichen Geschichten der Orchestermitglieder im Vordergrund stehen, zum ersten Mal am 8. Juli 2022, während des Kunst-Festivals "Osten" am Bitterfelder Kulturpalast.
Festival lockte Menschen aller Generationen an
Ein Großteil der Werksorchester-Mitglieder will dran bleiben und hat sich, gut zwei Monate nach dem Festival, zum Instrumentalunterricht an der Musikschule angemeldet. Vor allem aber, das zeigt der Nachmittag im September, ist eine Gruppe entstanden, wie sie kein Verein und keine andere Zusammenkunft zusammenbringen kann: unterschiedliche Generationen, soziale und politische Hintergründe kommen hier zusammen. So spiegelt das Werksorchester besonders gut wider, was sich die Festivalmacher gewünscht haben: dass möglichst viele Menschen mitmachen und mitgestalten, selbst aktiv werden und Bitterfeld-Wolfen und den Osten (neu) entdecken.
Kunstwerke über Bitterfeld-Wolfen hinaus zu sehen
Auch viele Kunstwerke des Festivals bleiben weiter zugänglich: So wird der Audiowalk "Schichten / Shifts" der Fotografin Franziska Klose, der durch die ehemalige Industrielandschaft in Bitterfeld-Wolfen führt und Industriegeschichte mit O-Tönen ehemaliger Arbeiter*innen lebendig macht, in das Tourismuskonzept der Stadt übernommen. Die Arbeit "Blackbox Wolfen" des Foto- und Videokünstlers Tobias Zielony über die ehemalige ORWO-Filmfabrik, ist zur Zeit prominent in der Ausstellung "Mining Photography" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen.
Das Theater Magdeburg eröffnete am 10. September seine kleine Spielstätte mit der Rechercherevue "Bitter Fields" des Kollektivs les dramaturx über den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Rechtsextremismus, die im Rahmen des Festivals entstanden ist und nun in der Landeshauptstadt für Furore sorgt. Im Leipziger Grassi-Museum werden demnächst die Arbeiten von Studierenden der Hochschule für Gestaltung und Buchkunst zu sehen sein, die für das Festival entstanden sind. All diese Arbeiten erzählen Bitterfeld und Wolfen weiter.
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Nachhaltige Wirkung des Festivals zeigt sich auf den zweiten Blick
Aber hat das Festival die Stadt Bitterfeld-Wolfen verändert? Hatten die 70 Produktionen mit 5.000 Besucher*innen einen messbaren Effekt auf das Kulturleben in der Region? Auf den ersten Blick: Nein. Bereits ein paar Tage nach Festivalende waren die roten Holzaufbauten des Festivalzentrums, die Schubkarrenrutschbahn und die Wimpelketten, die neonfarbenen Fahnen und die bedruckten Stoffbahnen am Balkon des Kulturpalastes verschwunden. Nur eine noch nicht abgeholte Holzbude eines Caterers erinnerte daran, dass hier wenige Tage zuvor buntes Treiben herrschte. Bitterfeld nach dem Festival ist das, was es vorher war.
Zeitgenössische Kunst findet in Bitterfeld ein Publikum
Die Veränderung zeigt sich nicht auf dieser Oberfläche. Sie zeigt sich in vielen Gesprächen, in denen Leute bestätigen: durch die Neugier von außen auf Bitterfeld, die das Festival geweckt hat, sehen sie die eigene Stadt mit anderen Augen. Veränderung lässt sich aber auch kulturpolitisch erleben. Denn eine wichtige Wirkung des Festivals war das Aufzeigen einer Möglichkeit.
'Für zeitgenössische Kunst gibt es in Bitterfeld doch kein Publikum.' – Doch gibt es. 'Die Bitterfelder reden nicht.' – Zahlreiche Interviewprojekte und Gesprächsformate dokumentieren das Gegenteil. 'Ein Festival in Bitterfeld lässt sich nicht finanzieren.' – Nun ja, es hat stattgefunden.
Ludwig Haugk, Teil der Künstlerischen Leitung.
Es gibt keine gute Ausrede mehr für das "I prefer not to": "Für zeitgenössische Kunst gibt es in Bitterfeld doch kein Publikum." – Doch gibt es. "Die Bitterfelder reden nicht." – Zahlreiche Interviewprojekte und Gesprächsformate dokumentieren das Gegenteil. "Ein Festival in Bitterfeld lässt sich nicht finanzieren." – Nun ja, es hat stattgefunden. "Hier will doch keiner hin." – Im Gegenteil, alle wollen nach Bitterfeld.
Fast 30 Kulturinstitutionen beteiligt: eine Chance für die Kulturarbeit in der Region
Ein weiterer wichtiger und hoffentlich nachhaltiger Effekt des Festivals war und ist die Netzwerkarbeit in der Region. So haben sich fast 30 Kulturinstitutionen beteiligt, vom Kreismuseum Bitterfeld über das Industriedenkmal Ferropolis in Gräfenhainichen bis zur Stiftung Bauhaus Dessau. Dieses Netzwerk kann, wenn weiter daran gearbeitet wird, zu einer Basis für nachhaltige Kulturarbeit für die Region werden: Wenn kleine und große Institutionen sich ergänzen und zusammenarbeiten, kann auch bei beschränkten Mitteln und gekürzten Haushalten viel erreicht werden.
Ein Festival für den verstorbenen Matthias Goßler
Dass die Region sich besser vernetzt, Kulturakteure sich zusammentun und Ressourcen bündeln, dürfte auch im Sinne des kürzlich verstorbenen Unternehmers Matthias Goßler sein. Wenige Tage vor Festivalbeginn ist er, der den Kulturpalast zu neuem Leben erwecken wollte und einer der wichtigsten Unterstützer des Projekts gewesen ist, bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ein Ereignis, das das Festivalteam zutiefst erschütterte und ein gelöstes Feiern, überhaupt Kunst und Unterhaltung, zunächst unmöglich zu machen schien.
Schließlich haben sich die Künstlerische Leitung und die Künstler*innen dafür entschieden, "Osten" stattfinden zu lassen, weil Matthias Goßler eine Atmosphäre hinterlassen hat, die nach vorne und im Zweifelsfall immer für das Machen und gegen das Zaudern gerichtet war. Dass das Festival am Kulturpalast dennoch stattfinden und auch noch in vielfacher Hinsicht zu einem Erfolg werden konnte, ist also in erster Linie ein Zeichen für die nachhaltige Wirkung seines Schaffens.
Die zentrale Frage zur kulturpolitischen Entwicklung in der Region in den nächsten Monaten wird also nicht sein, ob und, wenn ja, wie das Festival "Osten" einen nachhaltigen Effekt hatte und haben wird, sondern wie an das Schaffen von Matthias Goßler angeknüpft werden kann.
"Osten"-Festival gab Impulse für die Region um Bitterfeld-Wolfen
Schwer vorstellbar, dass die freigesetzte Energie nicht aufgegriffen wird. Wenn das Festival Verstärker der Ideen von Matthias Goßler war und in zukünftigen Ausgaben sein kann, dann ist das der vielleicht wichtigste Effekt, der (hoffentlich) die Region beflügelt. "Osten" war kein Ergebnis, sondern ein Anfang, ob es nachhaltig in die Region wirkt, hängt davon ab, ob und wie die Impulse aufgenommen und weitergesponnen werden.
(Redaktionelle Bearbeitung: Daniela Schulze; Valentina Prljic)
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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 21. Juli 2022 | 22:00 Uhr