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Eine Fotoserie über den intimen Alltag queerer Menschen in Osteuropa ist ebenso Teil der neuen Ausstellung im Kunsthaus Dresden wie eine raumgreifende Holzinstallation. Bildrechte: Kunsthaus Dresden/Ksenia Kuleshova

"Eine Frage der Nähe/A Question of Closeness"Gender und Queerness – Dresdner Ausstellung hinterfragt Rollenbilder des 20. Jahrhunderts

von Grit Krause, MDR KULTUR-Landeskorrespondentin Sachsen

06. April 2023, 17:27 Uhr

Gender und Queerness – das sind die Themen, mit denen sich die aktuelle Ausstellung im Kunsthaus Dresden beschäftigt. Begriffe, die bei manchen sofort Feindbilder entstehen lassen, die als Kampfbegriffe missbraucht werden. Doch worum es dabei oft einfach auch geht, sind Sehnsüchte und die Suche nach der eigenen Identität. Und so beschäftigt sich die Schau mit Rollenbildern des 20. Jahrhunderts, vor allem weiblichen Lebensentwürfen oder der Vorstellung davon, und wie damit gebrochen wird. Die Ausstellung ist bis zum 30. April 2023 zu sehen.

Neun Porträts von Frauen – Filmenthusiasten erkennen sie sofort: Brigitte Bardot, Jean Moreau, Isabell Huppert, weibliche Ikonen des französischen Kinos, der Nouvelle Vague. Die Künstlerin Irma Markulin hat Bilder aus Filmen in Linolschnitte übertragen, die die Schauspielerinnen in ihrer jeweiligen Rolle zeigen: als Betrügerin, Ehebrecherin oder Sexarbeiterin – Figuren, die sich im Konflikt mit gesellschaftlichen Konventionen befinden.

Die Künstlerin Irma Markulin hinterfragt in ihren Werken u. a. die ambivalente Repräsentation von Frauenfiguren in den französischen Filmen der Nouvelle Vague. Bildrechte: Kunsthaus Dresden

Unverzichtbares Detail dabei: die lässig im Mundwinkel gerauchte Zigarette. Für Irma Markulin ein Zeichen von Unabhängigkeit in einer Zeit, in der Frauen in eine Art moralisches Korsett gefräst wurden.

Diese Geste der rauchenden Frau ist einfach ein Ausdruck der Freiheit.

Irma Markulin, Künstlerin

Was sie wiederum nicht nur zu Film-, sondern auch zu feministischen Heldinnen macht. Deshalb setzt Irma Markulin ihrer Serie denn auch ein Bild von Simone de Beauvoir voran – nicht rauchend, dafür aber mit einer Art Heiligenschein versehen und einem Zitat aus ihrem Manifest, "Das andere Geschlecht": "Der Frau bleibt kein anderer Ausweg, als an ihrer Befreiung zu arbeiten."

Dresdner Ausstellung hinterfragt weibliche Stereotype

Dazu passen die drei bestickten Fahnen von Irène Mélix. Zu lesen darauf: "Eine Stunde für uns", "Eine Stunde für unsere Familie", "Eine Stunde fürs Leben" – Streikslogans der Textilarbeiterinnen aus Crimmitschau, die 1903/1904 für einen 10-Stunden-Tag kämpften.

Von Irène Mélix stammt auch die Videoarbeit "Gesang einer Waschmaschine". In der Art, wie sie den dafür eigens komponierten, vertrauten Sound der "aria fermata" wiedergibt, kann man darin Klage oder im Schleudergang sogar Wut heraushören: über die Unsichtbarkeit und Geringschätzung von Hausarbeit, die historisch und auch noch heute zumeist von Frauen erledigt wird.

Arbeiten zu 200 Jahren feministischer Geschichte

Auch Angelina Seibert ist von der Hausarbeit täglich überwältig. Die daraus resultierende "Überforderung" hat sie in ihren "Towers" dargestellt. Dafür hat sie Handtücher, Bettwäsche u. ä. zu bis unter die Decke reichenden Türmen aufgestapelt: alle mit unterschiedlichen Mustern, was die Absolventin der Dresdner Kunsthochschule gleichzeitig als übernommene Verhaltensmuster unzähliger, vorangegangener Müttergenerationen deutet.

Angelina Seibert "Towers" thematisieren die (Un-)Sichtbarkeit von Sorge- und Hausarbeit. Eines der Werke der aktuellen Ausstellung im Kunsthaus Dresden, die noch bis zum 30. April 2023 zu sehen ist. Bildrechte: Kunsthaus Dresden/Anja Schneider

So findet man in der Ausstellung viele Arbeiten, die sich mit tradierten Frauenbildern auseinandersetzen, von denen man sich, um noch einmal Simone de Beauvoir hinzuzuziehen, nur kollektiv befreien kann. Es ist nur eine Frage der Nähe zueinander, worauf auch der Titel der Schau verweist, die wiederum Fragen von Gender, Queerness, Identitäten und Sehnsüchten aufgreift.

"Ich muss die Menschen ja gar nicht als queer labeln,", sagt Kerstin Flasche, die Kuratorin der Ausstellung, "das sind hier tolle künstlerische Positionen, die sich mit einer feministischen Geschichte auseinandersetzen – mit Stereotypen, mit denen Frauen seit eigentlich 200 Jahren zu kämpfen haben. Aus diesen Stereotypen sind wir nie so richtig rausgekommen. Und diese queeren Anliegen sind auch, diese Stereotype zu hinterfragen und aufzubrechen. Und das sind die Inhalte dieser Werke."

Kunsthaus Dresden beleuchtet auch Gender und Queerness in anderen Ländern

Anlass für ihre Ausstellung war die Wahrnehmung, dass die Gesellschaft, und dabei geht der Blick weit über Landesgrenzen hinaus, in diesen Fragen zunehmend auseinanderzuklaffen scheint. Die Ausstellung widme sich der Lücke zwischen einer großen Loyalität und neuen Sichtbarkeit für queere Anliegen und einer sich auf der Ebene von Gesetzen zunehmend verschärfenden Lage – in Polen oder Russland zum Beispiel, wo die Rechte von Frauen an ihren eigenen Körpern durch neue Abtreibungsgesetze oder Verschärfungen dieser extrem angegriffen würden.

In diesem Kontext wird auch die Installation "Kulisse" von Lisa Maria Baier, die die verschärften Abtreibungsgesetze in Polen kritisiert, gezeigt – besser gesagt, öffentlich gelagert, denn der Rechtsstreit um das Werk, das 2021 für einen Park in Görlitz in Sichtweite zur polnischen Grenze entwickelt wurde, dauert an. Weil es nicht dem Entwurf entsprach, so die offizielle Begründung der Stadt Görlitz, musste es vor Ort abgebaut werden.

Mit ihrer Installation "Kulisse" sorgt die Künstlerin Lisa Maria Baier derzeit für Aufsehen. Bildrechte: Anja Schneider / Kunsthaus Dresden

Ihre "Kulisse" sei als Save-Space an der polnischen Grenze konzipiert gewesen, sagt Lisa Maria Baier, deshalb sei sie skeptisch gewesen, das Werk in die Ausstellung im Dresdner Kunsthaus zu integrieren. Am Ende aber habe sie das Konzept überzeugt. Heute sieht sie ihr Werk "perfekt eingebettet".

Man muss sich vorstellen, "Kulisse" steht zwischen den Fotografiearbeiten einer russischen Künstlerin, die ihr queeres Leben im Innenraum – wo anders geht es ja fast kaum – dokumentiert, und einer polnischen Künstlerin, die sich mit den Normen beschäftigt, die man in Polen erfüllen sollte als Frau.

Lisa Maria Baier, Künstlerin

So kann man im Grunde alle Arbeiten der sieben Künstlerinnen auch und vor allem politisch lesen. Und dennoch ist die Ausstellung mit den vielfältigen Ausführungen – als Druckgrafik, Linolschnitt oder Holzintarsien – ein ebenso sinnliches Erlebnis.

Informationen zur Ausstellung"Eine Frage der Nähe/A Question of Closeness"
Zu sehen bis zum 30. April 2023

Kunsthaus Dresden
Städtische Galerie für Gegenwartskunst
Rähnitzgasse 8
01097 Dresden

Öffnungzeiten:
Di bis Do 14 bis 19 Uhr
Fr, Sa, So 11 bis 19 Uhr
montags geschlossen

Preise:
Erwachsene 4 Euro
ermäßigt 2 Euro
freitags Eintritt frei

Teile der Ausstellung enthalten explizitere Inhalte und sind deshalb für Jugendliche unter 18 Jahren zugangsbeschränkt. Die Ausstellungsmacher*innen bitten darum, Kinder und Jugendliche durch die Ausstellung zu begleiten und nicht unbeaufsichtigt zu lassen.

(Redaktionelle Bearbeitung: Tina Murzik-Kaufmann)

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 06. April 2023 | 13:10 Uhr