Ausstellung "Grenzerfahrungen" Warum Halle nach dem Zweiten Weltkrieg ein Zentrum der Moderne war
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Der umstrittene Maler-Funktionär Willi Sitte wird aus Anlass seines 100. Geburtstages im Kunstmuseum Moritzburg Halle gewürdigt, in einer viel beachteten und gerade verlängerten Retrospektive. Die Galerie Talstraße in Halle erweitert jetzt den Blick auf sechs Maler und Bildhauerinnen der Generation und damit auf die grandiosen 50er-Jahre in Halles Kunst. Damals galt die Szene um die Kunsthochschule Burg Giebichenstein als die vitalste in Ostdeutschland. Doch die DDR-Kulturpolitik setzte Grenzen. Am Ende gingen die einen in den Westen, andere wichen aus in die angewandte Kunst. Die Schau zeigt die "Grenzerfahrungen".

"Grenzerfahrungen" nennt die Galerie Talstraße in Halle ihre aktuelle Ausstellung über sechs Künstlerinnen und Künstler der Jahrgänge 1921/22, die ihre Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg hier begannen. Das kaum zerstörte Halle war attraktiv und hatte den Vorteil einer renommierten Kunsthochschule: der Burg Giebichenstein.
Es ist also (mit der Burg) eine Grundlage da, die es köcheln lässt, und es entsteht etwas ganz Neues.
Hallische Kunst im Aufbruch nach der Nazi-Zeit
Die von den Nazis rausgeschmissenen Burg-Lehrer Erwin Hahs und Charles Crodel kehrten zurück, erklärt Matthias Rataiczyk vom Kunstverein Talstraße weiter. Und eine junge Künstlergeneration orientiert sich an dem, was bei den Nazis verpönt und verschleudert wurde. Bei Hermann Bachmann beispielsweise wird ein flächiger Expressionismus mit festen Konturen zur Grundlage.
Vitale Szene um Kunsthochschule Burg Giebichenstein
Alles dreht sich damals um die Burg Giebichenstein. Dass sie in den Fünfzigerjahren das produktivste Zentrum des expressiven Realismus und der Moderne in Deutschland war, ist heute leider weitgehend vergessen, wie Paul Kaiser vom Institut für Kulturstudien Dresden anmerkt:
"Dieses Beispiel einer Revitalisierung der klassischen Moderne in einer ostdeutschen Stadt machte Schule, zog Studentinnen und Studenten an und auch Lehrkräfte, die sich um die Burg Giebichenstein herum gruppierten", so der renommierte Experte für ostdeutsche Kunst. Die Hochschule habe es eben bis in die Fünfzigerjahre hinein dann in einem großen Maße ermöglicht, "dass Halle zur vitalsten Kunststadt im Osten wurde, wie das der berühmte Dresdner Kunstschriftsteller Fritz Löffler einmal bezeichnet hat."
Wurzeln der Kunsthalle Talstraße
Einige der Künstler ziehen nach Halle-Kröllwitz, in die Nähe der Burg. Aus dem Kröllwitzer Atelierhaus Talstraße 23 geht sehr viel später der Kunstverein hervor, in dem die "100-Jährigen" jetzt versammelt sind.
Der Sohn des Künstlerpaares Rosemarie und Werner Rataiczyk, heute Vorsitzender beim Kunstverein Talstraße, kennt noch das Provisorium: "Neun Kinder, vier Familien unter einem Dach, teilweise mit einer Toilette. Die eine Familie hatte das Bad des Hauses bekommen, die andere die Küche; hellhörig, unruhig – das war spannungs- aber auch sehr reizvoll. Man konnte auch mal von einem Atelier in das andere schwubbsen und schauen, was macht der und der."
Kritik der Kulturpolitik: Formalismus
Die Kulturpolitik forderte aber naturalistische Einfachheit, diskreditierte und bekämpfte zunehmend jede "formalistische" Abweichung. Was dagegen die Hallenser Schule formal und als Thema probierte, war eine kraftvolle Revitalisierung der Moderne.
Halle stand natürlich dann auch relativ schnell im Fokus der Kulturpolitik. Weil sich das ja rumsprach, dass hier quasi so gemalt würde wie im Westen. Das war dieser Topos der Kritik.
Willi Sitte gehörte zu den vermeintlichen "Formalisten". Doch er distanzierte sich bekanntlich von seinen "modernistischen" Anfängen. Schließlich stand die ganze Generation vor einer Entscheidung: Weggehen oder Kompromisse machen. Der Bildhauer Gerhard Lichtenfeld wurde, wie Sitte selbst, Professor an der "Burg".
Mitte der 60er-Jahre waren der jugendlich-euphorische Aufbruch und auch die Ausstrahlung Halles als Kunststadt Vergangenheit. Warum es so kam, erklärt Matthias Rataiczyk vom Kunstverein Talstraße so: "Ich glaube, da kommen unterschiedliche Dinge zusammen. Dass viele weggehen – das dünnt natürlich aus. Dass das System den gesellschaftlichen Auftrag in den Blick nimmt, Möglichkeiten schafft, auch Aufträge auszuschreiben – lässt die Malerei ein Stückchen nach hinten rücken."
Was auf diese Weise auflebt in Halle, sind die – eher unpolitischen – angewandten Künste von der Metall- bis zur Textilgestaltung. Freilich gibt es weiter gute Maler, doch eine kraftvolle Künstler-Gruppe wie in den Fünfzigern hat die Stadt nicht wieder erlebt. An diese Zeit jetzt mit den sechs "100-Jährigen" zu erinnern, sollte nur ein Anfang sein.
Angaben zur Ausstellung
Grenzerfahrungen. Hommage zum Hundertsten -
Werke von Hermann Bachmann, Mareile Kitzel, Gerhard Lichtenfeld, Werner Rataiczyk, Willi Sitte und Hannes H. Wagner
Bis 27. Februar 2022
Kunsthalle Talstraße
Talstraße 23
06120 Halle/Saale
Öffnungszeiten:
Mittwoch bis Freitag | 12 bis 19 Uhr
Samstag, Sonntag, Feiertage | 14 bis 18 Uhr
Besuch unter 2G-Bedingungen sowie mit FFP2- Maske und unter Beachtung der bekannten AHA-Regeln möglich. Bei Veranstaltungen ist zudem ein tagesaktueller Corona-Test erforderlich (2G+).
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | artour | 13. Januar 2022 | 22:05 Uhr