Interview mit HistorikerHolocaust-Gedenktag: Neue Ausstellung widmet sich Verfolgung Homosexueller
Am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus wird erstmals an sexuelle Minderheiten erinnert. Aus diesem Anlass widmet sich in Erfurt die Ausstellung "Rosa Winkel" den als homosexuell verfolgten Häftlingen in Buchenwald und Mittelbau-Dora. Mitorganisiert hat diese der Gedenkstättenleiter und Historiker Jens-Christian Wagner. Im Interview bei MDR KULTUR mahnt er eine neue Erinnerungskultur an und erklärt, warum für neue Formen des Gedenkens die Gegenwart eine größere Rolle spielen muss.
MDR KULTUR: Reden wir erstmal über die neue Ausstellung "Rosa Winkel. Als homosexuell verfolgte Häftlinge in den Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora" im Thüringer Landtag. Was wird sie zeigen?
Jens-Christian Wagner: Die Ausstellung widmet sich der Verfolgung von Menschen, die als Homosexuelle nach Buchenwald und Mittelbau-Dora verschleppt wurden, insgesamt etwa 700 Männer. Uns war wichtig, dass wir den gesellschaftsgeschichtlichen Kontext nicht ausklammern: Deswegen fangen wir bereits im Kaiserreich im 19. Jahrhundert an. Das Deutsche Reich hat sich 1871 das erste Mal ein Strafgesetzbuch gegeben, in dem der berüchtigte Paragraf 175 eingeführt wurde, der männliche Homosexualität unter Strafe stellt. [...]
Wir haben ganz bewusst uns auch mit der Zeit nach 1945 auseinandergesetzt. [...] Denn Homophobie, Diskriminierung gegenüber queeren Menschen ist etwas, was nicht aus der Welt ist.
Jens-Christian Wagner
Wir haben ganz bewusst uns auch mit der Zeit nach 1945 auseinandergesetzt. Denn im Unterschied zu anderen Opfergruppen wurden Homosexuelle weiterhin verfolgt. In der Bundesrepublik galt der Paragraf 175 – und zwar der von den Nazis verschärfte Paragraf – in der NS-Fassung bis 1969. Endgültig abgeschafft wurde der erst 1994, was man sich aus heutiger Perspektive auf den ersten Blick kaum noch vorstellen kann. Auf den zweiten Blick vielleicht schon. Denn Homophobie, Diskriminierung gegenüber queeren Menschen ist etwas, was nicht aus der Welt ist. [...]
Sie sind Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Mittelbau-Dora gehört noch dazu. 700 als homosexuell Verfolgte waren interniert und wurden dort gepeinigt. Die Hälfte hat das nicht überlebt. Welche Rolle spielten diese homosexuellen Opfer dort?
Tatsächlich standen Homosexuelle, die ein rosa Winkel auf ihrer Häftlingsuniform tragen mussten, sehr weit unten auf der sozialrassistischen Stufenleiter, die von der SS vorgegeben war. Innerhalb der Lager im Buchenwald kamen homosexuelle Häftlinge üblicherweise sofort in den Strafblock und mussten härteste, letzten Endes mordende, Zwangsarbeit im Steinbruch verrichten.
Als 1943 das KZ Mittelbau-Dora gegründet wurde, von dem in Buchenwald bekannt war, dass es de facto ein Todeskommando war, wurden so gut wie alle homosexuellen Häftlinge aus Buchenwald nach Dora abgeschoben. Sehr, sehr viele davon sind im Winter 1943/44 in dem unterirdischen KZ Mittelbau-Dora elendig zugrunde gegangen.
Inwieweit kann die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen heute weitergereicht werden an die nächste Generation? Inwieweit kann diese Erinnerung lebendig gehalten werden?
Indem wir, unter anderem, uns von der Erinnerung verabschieden. Auch wenn das paradox klingt. Aber im engeren Sinne des Wortes können wir uns nur an etwas erinnern, was wir selbst erlebt haben. An was sollen sich 16-jährige Schülerinnen und Schüler erinnern, deren Großeltern mittlerweile aus generationellen Gründen den Nationalsozialismus gar nicht mehr selbst erlebt haben? Auf die wirkt der Appell, sich an etwas zu erinnern zu sollen, als eine moralische Überforderung. Man sieht förmlich den erhobenen Zeigefinger.
Das heißt, wir brauchen andere Formen und wir müssen, glaube ich, auch inhaltlich etwas verändern. Zum Beispiel bin ich der Meinung, dass es ein Fehler ist in der deutschen Erinnerungskultur, dass sie darin besteht, dass wir uns mit den Opfern identifizieren. Was meines Erachtens aus der Post-Tätergesellschaft heraus eine Anmaßung ist. Wir müssen uns sehr viel stärker mit der Frage der Täterschaft auseinandersetzen. Wir müssen vor allen Dingen fragen, wie die nationalsozialistische Gesellschaft eigentlich funktioniert hat. [...]
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Da kann man durchaus Gegenwartsbezüge herstellen. Zum Beispiel fragen, wie heute die Gesellschaft mit Geflüchteten umgeht, welche Diskurse da eigentlich gefahren werden. Und dann kann man Ähnlichkeiten feststellen. Man kann natürlich auch Unterschiede feststellen. Aber auf diese Weise werden Gegenwartsbezüge hergestellt, und es kann jungen Menschen vermittelt werden, dass eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ganz grundlegend ist für unsere heutige demokratische Selbstverständigung.
Wie wurde an die als homosexuell verfolgten Häftlinge nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert? Mein Eindruck ist, dass gerade im Osten die homosexuellen Opfer nicht genug bedacht worden sind. Können Sie kurz skizzieren, wie die Unterschiede waren, die das Gedenken an die homosexuellen Opfer zwischen Ost und West betrifft?
Da gibt es eigentlich keinen großen Unterschied zwischen Ost und West. Tatsächlich wurde weder in Ost- noch in Westdeutschland an die als homosexuell in die KZs verschleppten Menschen erinnert. Sie wurden ganz bewusst ausgegrenzt. [...]
Tatsächlich wurde weder in Ost- noch in Westdeutschland an die als homosexuell in die KZs verschleppten Menschen erinnert. [...] Das änderte sich dann in den 80er-Jahren und ist eine Folge des Engagements der Community selbst. Es war nicht die Mehrheitsgesellschaft, die das erkämpft hat.
Jens-Christian Wagner
Das änderte sich dann in den 80er-Jahren und ist eine Folge des Engagements der Community selbst. Es war nicht die Mehrheitsgesellschaft, die das erkämpft hat. Das hat die schwul-lesbische Community, die queere Community, wie man heutzutage sagt, selbst erkämpft in Ost und West.
Wir haben einige tolle Beispiele für Schwuleninitiativen aus der DDR, die in den 80er-Jahren in Sachsenhausen und in Buchenwald vorstellig werden und dort Kranzniederlegungen vornehmen – gegen den Widerstand der staatlichen Behörden, mehr oder weniger mit Duldung der Gedenkstättenleitung, die aber auch kritisch draufguckt.
Tatsächlich ist es so, dass die Stasi in Erfurt versucht, ganz explizit diese Kranzniederlegungen zu verhindern. [...] Wir haben ein schönes Beispiel in der Ausstellung aus Sachsenhausen: Da wird eine Kranzschleife von der Stasi abgeschnitten. Die dürfen einen Kranz niederlegen, aber die Schleife, wo draufsteht, wir erinnern an die homosexuellen Opfer, die muss weg.
Angaben zur Ausstellung
"Rosa Winkel. Als homosexuell verfolgte Häftlinge in den Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora"
Vom 27. Januar bis 26. Februar 2023
Thüringer Landtag
Jürgen-Fuchs-Straße 1
99096 Erfurt
Öffnungszeiten:
Täglich von 8 bis 18 Uhr
Am Wochenende nur mit vorheriger Ankündigung
Die Ausstellung wurde von Studierenden der Friedrich-Schiller-Universität Jena in Zusammenarbeit mit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora erarbeitet.
Das Interview für MDR KULTUR führte Moderator Vladimir Balzer. Dies ist eine gekürzte Fassung. Redaktionelle Bearbeitung: Valentina Prljic
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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 27. Januar 2023 | 08:40 Uhr