Jüdisches Leben Unterhaltung über Jahrhunderte: Dresdner Künstlerin Marion Kahnemann über jüdische Vergangenheit
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Die 1960 in Magdeburg geborene Künstlerin Marion Kahnemann hat Dresden zu ihrer Wahlheimat gemacht. In ihrer künstlerischen Arbeit als Bildhauerin nimmt sie altes Wissen und neue Empfindungen auf. Sie fügt gefundene Objekte in ihre Bildräume ein oder schafft aus ihnen plastische Gebilde voller Melancholie, Witz und Naivität. Sie verbindet Zeiten und Kulturen, zu denen auch das Jüdische gehört.
Das Auge hat viel zu tun bei einem Besuch in Marion Kahnemanns Atelier im Dresdner Hechtviertel. Da sind ihre Werke und da ist das vielfältige Material, das sie sammelt. Früh stand für sie fest, dass sie Bildhauerin werden will, einen künstlerischen Beruf ergreifen – wie ihr Vater auch. Der war Schauspieler und entstammte einer jüdischen Familie. Aber die Religion habe bei ihm keine große Rolle gespielt, wohl aber die Erfahrung des Ausgegrenztseins: Ab 1933 konnte der Vater wie alle jüdischen Darstellenden nicht mehr spielen. 1939 gelang ihm mit einem der letzten Schiffe die Überfahrt nach Bolivien.
Das erste Mal besuchte Kahnemann die Dresdner Synagoge in der Fiedlerstraße nach dem Tod des Vaters. Da war sie 16 Jahre alt und selbst erstaunt, dass sie sich hier nicht fremd fühlte – eher aufgehoben, irgendwie heimisch.
Dresden war ja eine kleine Familiengemeinde, hatte 50 Mitglieder. Ja, man hat sich gegenseitig Geschichten erzählt, da bin ich hängen geblieben.
Kunststudium in Dresden
Ihr Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden schloss Kahnemann 1986 ab und arbeitet seitdem als freie Künstlerin. Die jüdischen Wurzeln, dieser vielstimmige Wissens- und Erfahrungshintergrund, ließen sie nicht mehr los. Kahnemann beschreibt dazu einen ihrer künstlerischen Zugänge: "Ich arbeite ja viel mit Texten. Das Spannende, finde ich, ist dieses Pluralistische in jüdischen Auslegungen, dieses sich über Jahrhunderte miteinander unterhalten. Wenn man so eine Talmudseite mal sieht, da sind Kommentare vom 1. Jahrhundert bis zum 17. Jahrhundert. Das ist auch grafisch so angeordnet, dass die miteinander reden, als würden die an einem Tisch sitzen."
Kunst für den öffentlichen Raum
Kahnemann ist keine Künstlerin, die sich ins stille Atelier zurückzieht. Sie sucht vielmehr auch den Diskurs – mit Interventionen im öffentlichen Raum: so mit ihrer Arbeit am Eingang des Neustädter Bahnhofs, die auf die Deportation jüdischer Frauen, Männer und Kinder von diesem Reiseort aus verweist.
Und mit den gläsernen Bänken auf der Brühlschen Terrasse, im Großen Garten und im Blüherpark. "Nur für Arier" – das Textband zitiert die Verordnungen, die Ausgrenzung und Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung im für alle sichtbaren Alltag der Stadt regelten. Viele Widerstände musste sie überwinden, um das Projekt zu realisieren:
Glücklicherweise ist nichts passiert mit den Bänken, außer das zweimal eine Latte ausgewechselt wurde. Okay, ab und zu sind Aufkleber drauf – aber keine Neonazis haben sich verewigt, maximal Dynamo.
Ihr ursprünglicher Gedanke, dass durch die gläsernen Bänke über Ausgrenzung nachgedacht wird, finde nicht statt, sagt Kahnemann. Sie schiebt aber nach, dass sie es möglicherweise auch nicht erfahren habe und es daher nicht weiß.
Dabei ist Ausgrenzung ein aktuelles Thema und Kahnemann empört sich darüber, was sich unsere Gesellschaft alles einfallen lässt, um Obdachlose von öffentlichen Plätzen und Gebäuden zu vertreiben.
Juden sollen in Stadtgeschichte präsenter sein
Manchmal hadert Kahnemann mit ihrer Stadt und deren Scheu, sich auch den dunklen Seiten ihrer Geschichte zu stellen: "Es braucht einen anderen Umgang damit. Es hat jahrelang gedauert, ehe wenigstens Juden in der Stadtgeschichte, im Stadtgeschichtsmuseum vorkamen – außer dem Modell der alten Synagoge.
Aber die stand nicht, weil es eine Synagoge war, im Stadtmuseum, sondern die stand im Stadtmuseum, weil sie von Gottfried Semper war. Dass Juden in der Stadtgeschichte vorkommen, ist wichtiger als ein jüdisches Museum." Ob ein solches, ein jüdisches Museum, in Dresden entstehen soll und kann, wo und mit welchen Intentionen, darüber wird derzeit in Dresden diskutiert.
Ausstellungshinweis
Arbeiten von Marion Kahnemann sind derzeit unter dem Titel "Transmission - Texte als Fundstücke" im Haus der Kirche (Dreikönigskirche) in Dresden zu sehen.
Öffnungszeiten:
Mo bis Fr | 11 bis 15 Uhr
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 22. Februar 2021 | 08:10 Uhr