Neue Leipziger Schule Späher am Waldsaum – zum 60. Geburtstag von Neo Rauch
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Er ist ein international renommierter Künstler, stellt mittlerweile in den großen Museen der Welt aus und ist doch seiner Heimat Leipzig aufs Engste verbunden geblieben. Am 18. April feiert der Maler und Grafiker Neo Rauch seinen 60. Geburtstag. Wir gratulieren mit einer Würdigung seines außergewöhnlichen Werkes.
Im Inneren einer gutbürgerlichen Behausung: ein Jahrmarkt, ein Welttheater. Im linken Bildraum proben bierselige Burschenschaftler den Aufstand, man tanzt auf dem Tisch und schwenkt die rote Jakobiner-Mütze. Seitenwechsel, eine andere Szenerie. Eine strenge Mutter konfrontiert einen wohl-gescheitelten Knaben mit einem von einer Naturgewalt - oder doch von Kinderhand - zerstörten Modell. Ermahnung oder Unterweisung, Katastrophe als Lehre? Doch damit nicht genug: unter einem Baldachin öffnet sich der hintere Bildteil. Eine Laienspielgruppe versucht sich an einem neuen Stück, Adoleszente studieren in legerer Freizeitkleidung neue Rollen ein. Kulissen hier: Bücherschrank und Guillotine.
Willkommen in der Welt von Neo Rauch. Doch so willkommen heißt einen diese Welt nicht. Ihr Erschaffer ist wahrlich kein Unbekannter, gilt er doch als DER Vertreter der so genannten Neuen Leipziger Schule. Und die ist mittlerweile weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt.
Ohne Rauch und seinem umtriebigen Galeristen Judy Lybke wäre Leipzig und vor allem das Kunstzentrum Leipziger Baumwollspinnerei kaum zu einem Hotspot des internationalen Kunstmarktes in den 2000er-Jahren geworden. Von dieser Aufmerksamkeit profitiert fraglos die gesamte hiesige Kunstszene noch heute. Doch man verstellt sich den Blick auf die Kunst von Rauch, raunt man nur vom Hype und dem Anlagewert seiner Arbeiten.
Bildwelten wie Laboratorien
Das Betrachten seiner Bilder kann vielmehr "jene wilde Schwermut" auslösen, von der Ernst Jünger schreibt. Es ist dieselbe ungesteuerte Sinneswahrnehmung, ein Geruch, eine Farbe, eine Situation, die uns an glückliche Kindertage erinnert.
Rauchs Leinwände sind wie Laboratorien. In ihnen wird mit dem Wahnsinn des Alltäglichen experimentiert. Da ist sein eigentümliches Personal, wie aus einer anderen Zeit entsprungen. Herausgeputzt in Uniformen oder höfischem Gewand, in jugendlichem Outfit oder im Dresscode der 60er-Jahre, beharren diese Figuren auf ihren somnambulen Verrichtungen, so als gebe es eine höhere Macht, die deren Tun einen Sinn verleiht. Es ist der Stoff des Traumhaften, aus dem seine Arbeiten gewebt scheinen. Und so wie der Traum seiner eignen Logik folgt, lässt Rauch sich von seinen Bildern leiten.
Es ist ja nicht so, dass das, was nachher auf der Leinwand vorliegt, deckungsgleich ist mit der Ahnung, die ich vom Bild hatte oder die mir zugesteckt wurde. Es findet immer ein Moment der Verwandlung statt. Das ist sehr vergleichbar mit dem Versuch, jemandem einen Traum zu erzählen. Schon die Erzählung dieses Traums ist eine Abstraktion. Einen Traum kann ich niemandem vermitteln.
Man kann sich getrost wie ein Kind an der Hand der Mutter durch Rauchs Bilder führen lassen, für den Maler bedeutet der Akt des Malens ja auch eine Art des naiven Schauens und der Weltaneignung.
Ich begreife den Vorgang des Malens als außerordentlich kreatürliche, geradezu dem Atmen nahestehende Form der Weltaneignung, die nach Außen weitgehend absichtslos ist und die sich im Wesentlichen auf den Prozess des konzentrierten Durchströmens beschränkt. Ich vernachlässige hier vorsätzlich die Betrachtung aller katalytischen Einflüsse, die geeignet sein könnten, diesem Geschehen seine Unschuld zu nehmen.
Vom "dicken Jungen" zum Maler-Star
Geboren in Leipzig, aufgewachsen bei den Großeltern in Aschersleben, zog es Rauch früh zum Studium der Malerei in die sächsische Messestadt. In der Lehre bei Arno Rink und Bernhard Heisig an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) Leipzig erwarb er sein malerisches Rüstzeug und auch in Zeiten von Konzept-Kunst und neuen Medien – Anfang der 90er-Jahre - beharrte er auf figürlicher Malerei, was damals nicht gerade als angesagt galt.
Es gab viel Häme. Wer trotzdem weitermalte, war der dicke Junge, mit dem niemand spielen wollte. Es war einfach unsexy.
Dass Rauch trotzdem weitermalte, sich eine Welt aus Geschautem und Imaginiertem aneignete, einen Kosmos aufschlug, der viel weiter reicht, als die bloße Abpinselei einer Fotovorlage, dass macht die Unverwechselbarkeit, die Eigentümlichkeit seines Werkes aus.
Noch keine "Altersmilde und Gelassenheit"
Rauch blieb lange Zeit der Hochschule für Grafik und Buchkunst verbunden. Erst als Assistent, später als Professor einer Fachklasse für Malerei in der Nachfolge von Arno Rink. Und er hinterließ deutliche Spuren, bei einer Generation von Künstlern, die durch seine Lehre gingen.
In diesen Tagen feiert der Maler nun seinen 60. Geburtstag. Das große öffentliche Feiern fällt nicht nur wegen der Corona-Krise aus. Rauch wünscht es sich etwas ruhiger, auch eine schon geplante Ausstellung im Museum der bildenden Künste sagte er überraschend ab. Dort sollten Bilder aus den frühen 90er-Jahren gezeigt werden, also jener Zeit, die Rauch als Beginn seines eigentlichen Werks datiert. Die Absage kam mit der Begründung, dass er noch nicht die "gebotene Altersmilde und Gelassenheit" habe, um sich mit diesem Frühwerk auseinanderzusetzen.
Das ist verständlich und betrüblich zu gleich. Hätte man doch dort nachvollziehen können, was Rauch in erster Linie ist: ein Maler. Und: dass es Zeit brauchte, um sich zu dem Künstler zu entwickeln, der er heute ist.
Einladung zum lustvollen Schauen
Altersmilde und Gelassenheit wünscht man dem Künstler, auch bei so manchem Scharmützel mit seinen Kritikern. Sorgte im letzten Jahr die Auseinandersetzung mit dem Autor Wolfgang Ullrich, der Rauch "Auf dunkler Scholle" verortete – nicht nur in der Kunstszene für einige Verwirrung.
Dass man Bilder von Rauch – wenn auch nicht in großer Orchestrierung – dennoch sehen kann, dafür sorgt eine kleine, feine Schau in der G2 Kunsthalle in Leipzig (momentan noch geschlossen). Das ist nicht die einzige Rauch-Ausstellung in diesem Jahr: Ab dem 6. Juni zeigt Rauch in seiner Grafikstiftung in Aschersleben auf kleiner Bühne Arbeiten aus seinem Frühwerk, vorwiegend auf Papier. Und im September gibt es zudem in seiner Leipziger Galerie Eigen+Art neue Gemälde von Rauch zu sehen.
Programmtipps:
MDR DOK
Die Neue Leipziger Schule
Fluch und Segen eines malerischen Phänomen
Film von Nicola Graef
MDR Fernsehen | 19.04.2020 | 22:30 Uhr
MDR DOK
Neo Rauch - Gefährten und Begleiter
Film von Nicola Graef
MDR Fernsehen | 19.04.2020 | 23:50 Uhr
Dass Rauchs Bilder zum Sehen einladen, zum Entdecken - auch zur kategorischen Ablehnung - zum lustvollen Wandeln auf den Seitenbühnen seines Welttheaters, in seinen Wäldern, seinen kleinbürgerlichen Handwerkerstädten, unter hohem Himmel und in klaustrophobischen Hinterzimmern, ist unbestritten. Man muss sich nur der Arbeit des Schauens, des intensiven Betrachtens hingeben. Oder um es mit Jean-Luc Godard zu sagen:
[…] Wenn man hinschauen würde, statt zu reden, dann würde man ganz bestimmt etwas sehen. Dann würde man nämlich sehen, was beizubehalten wäre, und was nicht. Dieses Hinschauen wäre Arbeit, Riesenarbeit.
Zum Autor
Jan Dörre studierte von 1991 bis 1999 Malerei und Grafik an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, der Künstler lebt und arbeitet in Leipzig.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR Spezial | 17. April 2020 | 18:05 Uhr