"Tausend Melodien" Klanginstallation bei Friedrichroda: Vergangenheitsaufarbeitung mit den Mitteln der Kunst

"Tausend Melodien", so hieß eine Sendung von Radio DDR, bei der sich die Hörerinnen und Hörer Musik wünschen durften. Im Februar 1966 sollte live von Friedrichroda aus gesendet werden, anlässlich der 10. Rennschlitten-Weltmeisterschaft. Doch das mit viel Energie vorbereitete Großereignis konnte nie stattfinden – in einer Klanginstallation vor Ort setzt sich Kristin Wenzel mit dem damals Geschehenen auseinander.

Eine Hütte im nebligen Wald
Mit "Tausend Melodien" soll die Erinnerung an die ausgefallene Weltmeisterschaft von 1966 wiederbelebt werden. Bildrechte: Kristin Wenzel

Unterhalb des Spießberghauses bei Friedrichroda beginnt ein ganz besonderer Wanderweg. Die Reste einer früheren Bob-Bahn sind hier erkennbar, man steigt den Berg hinab und läuft dabei an verschiedenen gemauerten Kurven vorbei, die teilweise überwachsen sind von großen Brombeerbüschen und Farn. Plötzlich wird die Stille des Waldes unterbrochen: einzelne Klangfetzen sind zu hören, etwas Musik, eine Frauenstimme. Sie gehen von einer kleinen Hütte am Rand der Rennschlittenbahn aus, die einst für Ansagen während der sportlichen Wettkämpfe genutzt wurde.

Verfallene Mauerstücken im Wald.
Verfallene Kurvenreste der Rennschlittenbahn bei Friedrichroda. Bildrechte: Kristin Wenzel

Künstlerin Kristin Wenzel hat das Häuschen vor kurzem saniert: blau gestrichen, zwei Lautsprecher und eine Leuchtschrift montiert und eine Bank davor gestellt, auf der man eine gemütliche Wanderpause einlegen und lauschen kann. Eine Frauenstimme entführt in die Vergangenheit. Sie erzählt von der 10. Rennrodel-Weltmeisterschaft, die in Friedrichroda stattfinden sollte. Und die abgesagt werden musste, weil Temperaturen um die zehn Grad das Eis auf der Bahn wegschmelzen ließen.

Wie verarbeitet man eine kollektive Enttäuschung?

"Vor der WM hat man sich in Friedrichroda in enorme Vorbereitungen gestürzt", erzählt Wenzel, die ihre künstlerische Auseinandersetzung mit einer ausführlichen Recherche begonnen hat. "Mit viel ehrenamtlichem Engagement hat man die Bahn von Hand vereist, man hat Kreisverkehre gebaut, Unterkünfte für die internationalen Gäste ausgebaut und sogar 100.000 Bratwürste besorgt, um alle angemessen zu verköstigen. Und dann war plötzlich klar: Die WM muss abgesagt werden. Die Tragik der Geschichte war, dass es ein unglaublich warmer Winter war."

Eine Frau sitzt auf einem Stuhl und redet.
Kristin Wenzel lebt heute in Gotha und Bukarest. Bildrechte: Kristin Wenzel

Der große Traum, einfach dahin geschmolzen. Kristin Wenzel kannte diese Geschichte lange nicht, obwohl sie im nahegelegenen Gotha aufgewachsen ist. Dann aber begann sie nachzuforschen, sprach mit Zeitzeuginnen und -zeugen und durchforstete Archive. Sie fand hunderte Zeitungsartikel zu den WM-Vorbereitungen, aber nur drei Meldungen zum Scheitern des Ereignisses. Kollektive Enttäuschung und der Umgang damit – das sieht Wenzel nun im Fokus ihrer Installation: "Dass damals nicht darüber gesprochen wurde, ist denke ich extrem ungesund. Denn eigentlich müssten die Menschen doch abgeholt werden in dieser Enttäuschung, indem man zum Beispiel sagt – wir feiern ein Fest, und braten da die Würste. Aber all das ist nicht passiert."

Kunst für die Zukunft eines Ortes

Blick in einen Ausstellungsraum mit einem Tisch und aufgestellten Schildern.
Das Projekt mit der ACC-Galerie ist im Rahmen des Kunstfests Weimar entstanden. Bildrechte: Kristin Wenzel

Damals habe kein Heilungsprozess stattgefunden, sagt Wenzel. Vielleicht ist ihre Arbeit nun ein Versuch, das vor fast 60 Jahren Geschehene aufzuarbeiten. Frank Motz von der ACC-Galerie Weimar, der Wenzel kuratorisch betreut hat, meint, das sei ihr auf jeden Fall gelungen: "Das muss man erst mal bringen! Sich mit der Vergangenheit eines Ortes auseinanderzusetzen mit dem Ziel, in der Gegenwart etwas für die Zukunft des Ortes zu tun. Etwas Audiovisuelles zu schaffen, was uns und den nachfolgenden Generationen die Möglichkeit gibt, via Kunst über uns selber, über unsere Vergangenheit und auch über unser Wesen als Menschen, unsere Sehnsüchte, unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten nachzudenken."

In der Weimarer ACC-Galerie hat Wenzel noch eine Mini-Ausstellung zu ihrer Klanginstallation aufgebaut. Wie in einem Heimatmuseum sind hier verschiedene Presseartikel von damals zu finden, ebenfalls Sonderbriefmarken zur Rennschlitten-WM oder Postkarten. Auch die Klanginstallation läuft in der Galerie – wer aber kann, sollte sich unbedingt in den Wald aufmachen um sie zu hören. Sich auf die Bank vor der kleinen Ansager-Hütte setzen und lauschen, was genau an diesem Ort, im Jahre 1966 geschah.

Informationen zu "Tausend Melodien" Klanginstallation von Kristin Wenzel
Musik: Benjamin Waschto
Sprecherin: Angelika Richter

Zeit: täglich von 10 bis 15 Uhr, bis 20. November 2022 (evtl. wird dieser Zeitraum noch verlängert)

Anreise: Parkplatz "Spießberghaus" bei Friedrichroda, die Bobbahn ist von dort ausgeschildert. Festes Schuhwerk ist empfehlenswert.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 15. Oktober 2022 | 08:45 Uhr

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