100. Geburtstag Der Autodidakt – Willi Sittes Malerei im Spiegel der Zeit
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Kaum ein DDR-Künstler ist bis heute so umstritten wie Willi Sitte. Der Autodidakt schulte sich an den Meistern der Renaissance und der klassische Moderne. Seine Vorbilder waren Picasso und Guttuso, heute gilt er mit seinen muskulösen Arbeiterhelden als Vertreter des sozialistischen Realismus. Kritiker werfen ihm vor, seine Ideale verraten und nicht genug für die Freiheit der Kunst getan zu haben. Trotz seiner Macht als Funktionär. Einen facettenreichen Blick auf Leben und Werk verspricht das Kunstmuseum Moritzburg Halle mit einer großen Retrospektive im Herbst. Sitte wäre am 28. Februar 100 Jahre alt geworden, die Saalestadt war sein langjähriger Arbeits- und Wohnort. Ein Porträt.

Üppige Körper, die vor Kraft strotzen. Liebende Leiber wie im Geschlechterkampf. Fleischeslust und Farbwucht in großen Formaten – das war am Ende sein Markenzeichen.
"Lieber vom Leben gezeichnet"
Der Hallenser Maler Willi Sitte wusste, Körper in allen möglichen Stellungen auf die Leinwand zu bannen. Er brauche "ein gewisses Format, ein Volumen", um sich zu entfalten, kommentierte er selber. "Lieber vom Leben gezeichnet, als von Sitte gemalt", so ging ein Kalauer zu DDR-Zeiten. Biografin Gisela Schirmer entgegnet, der Mensch an sich sei Sittes Thema gewesen. Da liege es nah, ihn in seiner Nacktheit zu zeigen. So lasse sich sehr viel ausdrücken – Positives und Negatives. Auf derbe Sinnlichkeit will sie ihn nicht reduziert wissen. Sittes Werk sei facettenreicher.
Tatsächlich hat der Autodidakt lange experimentiert. Nicht nur als Maler, sondern auch mit seiner Rolle als Künstler-Funktionär in der DDR.
Linientreu und eigensinnig?
Sitte gab sich zugleich linientreu und eigensinnig im Bestreben, künstlerische Souveränität zu wahren. Als langjähriger Präsident des Künstlerverbandes und als Mitglied in Volkskammer und im Zentralkomitee hatte er von 1974 bis 1988 großen Einfluss. Bereits ab 1951 war er Lehrer an der Kunstschule Burg Giebichenstein in Halle.
Ulrich Reimkasten hat Sitte als Professor erlebt – und mit ihm gestritten. Er beschreibt ihn als lebenslustig, genussfreudig – und tolerant. Als Reimkasten die Biermann-Ausbürgerung 1976 nicht mit seiner Unterschrift unterstützen wollte, habe Sitte ihn vor der Exmatrikulation bewahrt, erzählt er. Später seien sie Freunde geworden. Heute arbeitet Reimkasten in Sittes ehemaligen Studio an der Frohen Zukunft in Halle. Er weiß, dass Sitte sich den deutschen Malern der Renaissance verpflichtet fühlte, Dürrer und Hans Baldung Grien: "Und das sind auch Maler des Fleisches, der Oberfläche, der Haut."
Außerdem gelten sie als Meister der Zeichenkunst. Dass Sitte einer werden würde, war dem Arme-Leute-Kind aus dem tschechischen Kratzau nicht in die Wiege gelegt.
Wie das Arme-Leute-Kind aus Böhmen große Kunst entdeckt
Sittes Mutter war Dienstmädchen, sein Vater Zimmermann und Mitbegründer der tschechischen kommunistischen Partei. Anders als seine sechs Geschwister verkroch sich der verträumte Junge lieber auf dem Heuboden, um zu zeichnen.
Der Schuhmacher der Familie wusste um seine Leidenschaft. Da er den Schlüssel zum Heimatmuseum verwaltete, verhalf er Sitte zum ersten großen Kunsterlebnis: Josef Ritter von Führich, ebenfalls geboren in Kratzau und genannt "der Theologe mit dem Stifte", war seinerzeit in ganz Europa bekannt mit seinen Zeichnungen religiösen Inhalts, später für Historiengemälde. Bald zeichnete Sitte in seinem Versteck unzählige Blätter zu den Kämpfen der Hussiten und den Schlachten des Dreißigjährigen Krieges. Für größere Formate fehlten noch die Mittel. Da traf es sich, dass die Eltern die Empfehlung bekamen, den Jungen zur Ausbildung auf die Textilmusterzeichenschule zu schicken. In der Bibliothek des nordböhmischen Gewerbemuseums wurden die Alten Meister Sittes Lehrer.
Schließlich delegierte man ihn 1940 auf die Hermann-Göring-Meisterschule für Monumentale Malerei in Kronenburg an der Eifel. Zu Professor Werner Peiner, der die neue Reichskanzlei ausstatten sollte. Als Lehrling sei er bereits für Meisteraufgaben eingesetzt worden, berichtete Sitte später. Das bedeutete: Figuren und Faltenwurf. So stand er bald in sechs Meter Höhe und zeichnete überlebensgroße Gestalten für wandhohe Gobelins mit den Schicksalsschlachten Germaniens.
Von der Ostfront nach Italien: Soldat, Deserteur, Partisan
Inzwischen hatte Deutschland tatsächlich einen Krieg begonnen. Zunächst spürte Sitte davon nicht viel. Das sollte sich ändern. Nach einem Jahr der Ruhe, befreit von Arbeits- oder Wehrdienst, in dem keiner nach seiner kommunistischen Vergangenheit fragte oder warum er nicht in der HJ gewesen sei, wie Sitte sich erinnerte. In einem Brief an Hermann Göring beschwerten sich die Schüler 1941, malen und nicht nur Helden vergrößern lernen zu wollen.
Das hatte Konsequenzen. Sitte wurde wie alle Unterzeichner an die Ostfront geschickt. Als Infanterist, der tausende Kilometer zu Fußen laufen würde. Er überlebte als einer der wenigen die Kesselschlacht im Donezbecken. Wochen später lag er mit Gelbsucht im Bunker, kam ins Lazarett und wurde zum Genesungsurlaub nach Kratzau geschickt. Sein Talent bewahrte ihn vor dem nächsten Einsatz bei Rommels Truppen in Afrika. Im Offizierscasino von Küstrin sollte er zum Tag der Wehrmacht sein erstes Wandbild malen: Die Schlacht bei Liegnitz von 1241, als die Mongolen in Polen einfielen und – siegten.
Schließlich landete er 1944 bei einer "kleinen, seltsamen Einheit" in Italien. Im Norden, in Montecchio Maggiore, dort, wo Romeo und Julia spielt, fand er Kontakt zu Partisanen, die er als Chef der Poststelle heimlich mit Informationen zu versorgen begann. Gezeichnet hat er damals seinen antifaschistischen Zyklus "Totenzanz des Dritten Reiches". Noch in konventioneller Bildsprache mit Hitlergruß, Stahlhelm und Knochenmann.
Erst 2004 wurde ein anderes Werk aus der Zeit entdeckt und freigelegt: Eine Allegorie auf die Liebe. In einem Raum des Rathauses, wo er seinen Postdienst verrichtete, malte der 23-Jährige seine noch zarten Sehnsüchte an die Wand. Als die Partisanengruppe aufflog, entkam er nur durch mehrmalige Flucht und mit Glück dem Militärgericht.
Picasso, Guttuso und die Kunst der Reduktion
Sitte erlebte das Kriegsende in Italien und blieb. Das Land wurde seine zweite geistige Heimat, er lernte die Sprache, beschäftigte sich mit der Kunstgeschichte, mit Raffael und Michelangelo, aber auch mit dem Neorealisten Renato Guttuso. 1946 bekam er seine erste Ausstellung in der Mailänder Galerie Dedalo und verdiente sein erstes Geld mit der Kunst.
Thomas Bauer-Friedrich vom Kunstmuseum Moritzburg in Halle, das derzeit eine große Sitte-Ausstellung für Oktober vorbereitet, kennt die "sehr realistischen Bilder in sehr toniger dunkler Komposition". Sitte versuchte sich an mythologischen und biblischen Motiven, malte den Blick aus seiner Kammer über den Dächern Mailands und das erste Selbstporträt in Öl: "Das ist quasi eine an der Tradition des 19. Jahrhunderts ausgerichtete Malerei. Da ist noch nichts von dem zu erahnen, was später aus Willi Sitte geworden ist", schätzt Bauer-Friedrich ein.
Von Sittes" Picasso-Erlebnis" kündet hingegen sein erstes großformatiges Ölbild, das unter dem Eindruck der Hochwasserkatastrophe in Italien von 1951 entsteht. In der unwirtlichen Po-Ebene, durch die er sich einst als Wehrmachtsdeserteur geschleppt hatte, wurden ganze Dörfer weggeschwemmt, viele Menschen getötet.
Seine akademische Kunstfertigkeit stellte er darin zurück, wie Gisela Schirmer meint, fasziniert von Picasso übt er sich in der Kunst der Reduktion: "Im Hochwasserbild steht alles still. (...) Es hat etwas Sinnbildhaftes."
Inzwischen lebte Sitte nicht mehr in Italien. Bereits 1947 hatte er sich in der DDR, in Halle niedergelassen, trat in die SED ein. Er malte Bekenntnisbilder wie das vom aus der Haft entlassenen Sozialistenführer "Karl Liebknecht" im konventionellen Stil, zeigte aber auch, dass ihn die französische Moderne und eben Picasso inspirierten.
Als Formalist verrissen
Dabei stieß sein Engagement, sich als Kommunist und Künstler im neuen Staat einzubringen, durchaus auf Widerstand. Dem Massaker der Nazis im tschechischen Lidcie 1943 widmete sich Sitte aufgrund seiner Herkunft, aber auch vor dem Hintergrund seiner Kriegserfahrungen. Er nahm formal Anleihe an Picassos Guernica-Bild. Seine Darstellung des Leidens wurde jedoch als formalistisch verrissen. Das mehrteilige Tafelbild verschwand auf mysteriöse Weise. Geblieben ist nur die Vorstudie "Massaker II".

Nach dem Attentat auf NS-Reichsprotektor Heydrich waren in dem tschechischen Dorf alle Männer erschossen worden, die Frauen kamen ins KZ. Bildrechte: dpa
Für Sitte war es der Versuch, quasi mit den Mitteln der Moderne den neuen Staat zu unterstützen. Aber das, was die Kulturfunktionäre vor allen Dingen abstieß, das waren diese formalen Mittel.
An die Angriffe in der SED-Parteizeitung "Freiheit" erinnert sich noch der Hallenser Maler Gerhard Schwarz, der meint, Sitte habe sich immer verteidigt: "Er hat zu seinem Künstlertum und seinen Überzeugungen gestanden, obwohl er von seinen kommunistischen Genossen schwer angegriffen wurde."
Auftragskunst: Petrochemie und Petticoat
Sitte gab sich Mühe, der Partei entgegen zu kommen. Da die Arbeitswelt in der Kunst Darstellung finden sollte, fuhr Sitte zu den Chemiewerken nach Leuna. In diesem Zusammenhang entstand sein Historienbild in Erinnerung an den Arbeiteraufstand 1921. Die experimentelle Form wurde wieder als Zumutung empfunden. Im DDR-Fernsehen wurde 1965 diskutiert, ob Sitte wirklich volksverbunden genug oder nur für Intellektuelle male.
Selbst mit seinem "Chemiearbeiter am Schaltpult" (1968) kam er bei der Partei nicht besonders gut an: zu viel Form, zu wenig linientreuer Inhalt. Tatsächlich, so findet der Kunsthistoriker Eckhart Gillen, klammerte Sitte die Tristesse von Leuna und Bitterfeld aus: "Er hat, und das fand ich schon sehr merkwürdig, die schwere, körperliche Arbeit nicht gezeigt." So blieb er in seiner Gegenständlichkeit abstrakt.
Bauer-Friedrich zufolge beendete Sitte die frühe Auseinandersetzung mit der Moderne, wurde "realistischer", arbeitete mit einer ganz anderen Farb-Palette und kam dann Anfang der Siebziger zu dem Stil, mit dem man ihn bis heute verbindet. Es entstand 1970 seine Anklage gegen den Vietnamkrieg in der Tradition mittelalterlicher Sakralkunst, ein Polyptichon des Grauens in ruppiger Malweise.
Er tauchte weiter ein in die Arbeitswelt, erfand seine derb-sinnlichen Akte. Der Hallenser Maler und Wegbegleiter Gerhard Schwarz interpretiert Sittes neue Phase auf diese Weise:
Also für meine Begriffe hat er in seinen Bildern etwas Typisches, was die DDR betraf, ausgedrückt. Diese Rosa-Rötliche, also dieses Fleisch, was er malte. Dann diese oft lachenden Gesichter. Das hatte was Aufgesetztes, so wie die DDR eben auch war. Ein Land, das klein war, aber sich selbst wichtig nehmen wollte. Es gab doch diesen ulkigen Spruch: 'Wir sind die größte DDR der Welt.' Und das steckt so ein bisschen in seinen Bildern drin, finde ich.
Als Staatsmaler abgehängt
Die Wende setzte ihm zu. Seine Bilder verschwanden in den Depots. Auf Kritik an seiner Doppelrolle als Künstler-Funktionär antwortete Sitte, er habe keinem geschadet. Auch denen nicht, die Pech und Schwefel über ihn hätten schütten wollen. Das könne er belegen. Seinen Nachlass übergab er 1993 ans Germanische Nationalmuseum Nürnberg. Ausgerechnet dort verzichtete man dann 2001 auf die große Retrospektive, die unter dem Titel "Werke und Dokumente" schon geplant war. Der Verwaltungsrat des Museums sagte sie kurzerhand ab, ohne den Künstler zu informieren. Zur Begründung hieß es, man wisse zu wenig über Sitte.
Noch einmal 20 Jahre später könnte die Retrospektive zum 100. Geburtstag im Kunstmuseum Moritzburg Halle möglicherweise die Lücken füllen.
Ich lege Wert darauf, die Person und den Lebensweg insgesamt zu betrachten und kann nur sagen: was für ein deutsches Schicksal!
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Lebensläufe | 25. Februar 2021 | 23:05 Uhr