
3./4. Mai 2025 20 Jahre für die Kunst: Spinnereirundgang Leipzig feiert Geburtstag
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08. Mai 2025, 19:44 Uhr
Am ersten Maiwochenende des Jahres 2005 eröffneten auf dem Gelände der ehemaligen Baumwollspinnerei in Leipzig erstmals Galerien und Ateliers gemeinsam ihre Türen für das interessierte Publikum. Das strömt seit nunmehr zwanzig Jahren in Scharen zu den beiden jährlichen Galerierundgängen, wo der Hype um die "Neue Leipziger Schule" bis heute nachklingt. Doch es gibt noch viel mehr zu entdecken auf der Spinnerei – wir haben zwölf spannende Fakten rund um die Kunstfabrik für Sie zusammengestellt.
Inhalt des Artikels:
- 1. Wiedergeburt als Kunstenklave: Das zweite Leben der Baumwollspinnerei
- 2. Erfolgsgeschichte der Gründerzeit: Das erste Leben der Spinnerei
- 3. Baumwolle als Teil deutscher Kolonialgeschichte
- 4. Die Spinnerei als Ort der Frauen
- 5. Volkseigene Produktion und Deindustrialisierung
- 6. Die wilden Neunziger
- 7. Die "Neue Leipziger Schule" als Initialzündung
- 8. Der erste Rundgang am 30. April 2005 – Startschuss für die "Kunstfabrik"
- 9. Tanzende Dampfmaschinen und Partytempel
- 10. Mehr als Malerei: auch Tanz, Schauspiel und Kino sind auf der Spinnerei heimisch
- 11. Heimat für Gewerbe und Startup-Schmiede
- 12. Die gemeinnützige unter den kommerziellen Galerien: die HALLE 14
1. Wiedergeburt als Kunstenklave: Das zweite Leben der Baumwollspinnerei
Als am ersten Maiwochenende des Jahres 2005 sieben Galerien und dutzende Künstlerateliers zum ersten Galerierundgang auf die Leipziger Baumwollspinnerei einluden, war das ein Hoffnungsfunke in schwierigen Zeiten. Das über 120 Jahre alte Fabrikgelände im Leipziger Westen hatte die Nachwendezeit mehr schlecht als recht überstanden, Leipzig selbst galt als schrumpfende Stadt mit hoher Arbeitslosigkeit, niedrigen Einkommen und sinkenden Einwohnerzahlen. Doch die MiB AG, seit 2001 Eigentümerin der Baumwollspinnerei, hatte eine Idee: Künstler und Kreative sollten gemeinsam mit passenden Gewerbebetrieben angesiedelt werden.
Das Konzept: der "Luxus der Leere, niedrige Mieten, veredelte Rohbauten", wie sich Geschäftsführer Bertram Schultze erinnert. Keine aufwändigen Sanierungen oder Umbauten, der Charme des Industriegeländes blieb weitestgehend erhalten. Galerien, Künstler und Besucher lieben und leben dieses Konzept bis heute. Zum ersten Rundgangwochenende 2005 kamen über 10.000 Gäste, das enorme Publikumsinteresse ist auch zwanzig Jahre später nicht abgeebbt.
2. Erfolgsgeschichte der Gründerzeit: Das erste Leben der Spinnerei
Am Anfang war die Geschäftsidee: Ende des 19. Jahrhunderts stieg die weltweite Nachfrage nach Baumwollgarnen rasant. Der Aufstieg der 1884 gegründeten Leipziger Baumwollspinnerei AG war beinahe vorprogrammiert – modernste Technik und Unternehmergeist, aber auch niedrige Löhne und extrem lange Arbeitszeiten machten die Fabrik äußerst profitabel.
Bis 1910 wuchs sie so zur größten ihrer Art in Europa. Zur Anlage gehörten Fabrikwohnungen, Kindergarten, Schrebergartensiedlung und Arztpraxen. Die Arbeitskräfte wurden aus allen deutschen und europäischen Textilregionen angeworben, an den Kämmmaschinen mit über 240.000 Spindeln schufteten über 1.500 Menschen.
3. Baumwolle als Teil deutscher Kolonialgeschichte
Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde weltweit gehandelt. Baumwolle war eines der wichtigsten Handelsprodukte am Weltmarkt, weshalb die Leipziger Spinnerei in der Kolonie Deutsch-Ostafrika – dem heutigen Tansania – eigene Plantagen anlegte.
Für die Unterhaltung der Plantagen, die Produktion der Baumwolle und den Export nach Leipzig waren um 1910 etwa 2.000 afrikanische Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigt. Die bis 1913 betriebene Plantagenwirtschaft, die auch mit Landraub und Sklaverei einherging, gehört damit den dunkelsten Kapiteln der Leipziger Baumwollspinnerei.
4. Die Spinnerei als Ort der Frauen
Die harte Arbeit an den Spinnmaschinen wurde im Laufe der Zeit immer mehr zur Frauensache. Waren es um die Wende zum 20. Jahrhundert noch etwa dreißig Prozent, bestand die Belegschaft zur Zeit des Nationalsozialismus zu etwa zwei Dritteln aus Frauen.
Unter den Frauen der Spinnerei waren auch 500 ausländische Zwangsarbeiterinnen, die der Fabrik zugewiesen wurden (die Beschäftigung von KZ-Häftlingen lehnte die Geschäftsführung ab, möglicherweise auf Betreiben des Aufsichtsrates Walter Cramer, der nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 als Mitstreiter des ehemaligen Bürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler hingerichtet wurde). Nach Ende des Zweiten Weltkrieges erhöhte sich der Frauenanteil auf ca. 80 Prozent. Der heutige Kunst- und Galeriebetrieb ist eher männerdominiert – die einzige Galerie mit einem dezidiert weiblichen Fokus ist die Galerie Laetitia Gorsy in der Halle 3c.
5. Volkseigene Produktion und Deindustrialisierung
Ohne die Abwicklung des bis dahin "Volkseigenen Betriebs" 1993 durch die Treuhand nach über 100 Jahren Baumwollproduktion wäre die heutige Spinnerei als Kunstort nicht möglich gewesen. Ein schwacher Trost für die 1.650 Beschäftigten, die noch 1989 hier tätig waren und zum Teil ihr halbes Leben auf der Spinnerei gearbeitet hatten – bis zuletzt unter harten Arbeitsbedingungen in einer Fabrik, die seit Jahrzehnten nicht modernisiert worden war.
Ein westdeutscher Käufer übernahm das Gelände, ca. 40 Personen waren bis ins Jahr 2000 noch mit der Produktion von Autoreifen-Kord beschäftigt. Trotz Deindustrialisierung war das Spinnereigelände nie ein "lost place", was Vandalismus vorbeugte und den Neuanfang nach der Jahrtausendwende erleichterte.
6. Die wilden Neunziger
Schon in den 90er-Jahren bezogen erste Künstler und Kreative das Gelände. Neo Rauch, unbestrittener Star unter den Vertretern der "Neuen Leipziger Schule", war einer der ersten Maler, die ihr Atelier in die Halle 18 der Baumwollspinnerei verlegten. "Ich habe sie das erste Mal betreten, als wir hier nach Räumen suchten. Das muss '92 gewesen sein, da wurde auf einigen Etagen noch gesponnen, da rotierten hier auf unserer Etage noch die Maschinen", wie er sich erinnert.
Malerkollege Hans Aichinger machte ähnliche Erfahrungen: "Am Anfang hörte man noch die letzten Maschinen und dann waren wir alleine mit den Ratten." Doch wie viele andere Künstler blieb nicht nur Aichinger, sondern auch Neo Rauch – bis heute.
7. Die "Neue Leipziger Schule" als Initialzündung
Kurz nach der Jahrtausendwende erlebte Malerei "made in Leipzig" plötzlich einen ungeahnten Boom. Mitverantwortlich war der umtriebige Galerist Gerd Harry Lübke, den alle nur "Judy" nennen. Auf Kunstmessen wurden seiner Galerie Eigen + Art, die er in den 80er-Jahren im Leipziger Stadtteil Connewitz gründete, plötzlich die Bilder von Malern wie Neo Rauch, Tim Eitel und Martin Eder in Minuten weggekauft.
Maler wie Tilo Baumgärtel, Ludwig Ruckhäberle, David Schnell und Matthias Weischer, allesamt ehemalige Studenten der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, wurden für ein paar Jahre unter dem Label "Neue Leipziger Schule" zu Lieblingen der weltweiten Kunstsammler. Der Bedarf der Leipziger Galerien an Ausstellungsfläche war entsprechend hoch – das Angebot von 2005, gemeinsam die leerstehenden Räume auf der Baumwollspinnerei zu beziehen, hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen können.
8. Der erste Rundgang am 30. April 2005 – Startschuss für die "Kunstfabrik"
Im Frühjahr war es dann soweit: Neben Eigen+Art zogen auch die Galerien Dogenhaus (heute Jochen Hempel), die Maerzgalerie (heute Galerie Reiter), die Galerien Kleindienst, André Kermer und B/2 mit auf das Gelände. Einzige Neugründung war die Galerie ASPN, damals auch die einzige mit einer Frau an der Spitze: Arne Linde führt die Galerie bis heute. Zum ersten Rundgang am 30. April und 1. Mai 2005 wurden über 10.000 Besucherinnen und Besucher auf dem Gelände gezählt. Ein fulminanter Auftakt und der Beginn einer bis heute andauernden Erfolgsgeschichte.
9. Tanzende Dampfmaschinen und Partytempel
Für einige Jahre war die Spinnerei auch Anziehungspunkt für Leipzigs Partygemeinde. Die Tangofabrik lockte für viele Jahre nicht nur Freunde des argentinischen Tanzes in die Halle 11 der ehemaligen Fabrik, hier verlieh das Team aus Leipzigs Indieclub "Ilses Erika" auch den "Goldenen Rüdiger" für die Alternative-Künstler der Stadt und der damals noch junge Erfurter Rapper Clueso hostete Partys des Leipziger Partykollektivs "Stars for Soul". In der Halle 7 tanzten bis 2016 fliegende Mäntel, fuhren rollende Betten über den Dancefloor und menschenfressende Sofas verschlangen die Gäste der legendären Bimbo-Town-Partys des Aktionskünstlers Jim Whiting. Die spektakuläre Großinstallation musste weichen, weil die Halle 7 neuer Standort des Leipziger Naturkundemuseums werden sollte - ein Vorhaben, das nie in die Tat umgesetzt wurde.
10. Mehr als Malerei: auch Tanz, Schauspiel und Kino sind auf der Spinnerei heimisch
Seit 2019 ist die Halle 7 der Spinnerei Spielstätte LOFFT – Das Theater. Damit hat Leipzigs freie Theaterszene eine wichtige Bühne für Eigenproduktionen und internationale Koproduktionen. Das LOFFT ist auch einer der herausragenden Orte für zeitgenössischen Tanz in Leipzig.
Schon in den 90er-Jahren war das Leipziger Schauspiel mit einzelnen Produktionen auf dem Spinnereigelände aktiv. Heute ist die "Residenz" in der Halle 18 der Spinnerei eine feste Spielstätte, wo ausschließlich Gastspiele freier Theaterprojekte gezeigt werden. Ebenfalls in der Halle 18 sorgt das unabhängige LuRu-Kino für Schauspiel auf der großen Leinwand. Die Abkürzung steht übrigens für die Nachnamen der beiden Betreiber Christoph Ruckhäberle und Matthias Ludwig, die beide auch ansonsten eng mit der Spinnerei verbunden sind. Ruckhäberle hat hier sein Atelier, Ludwig betreut Presseanfragen und Führungen über das Gelände.
11. Heimat für Gewerbe und Startup-Schmiede
Von Galerien und Künstlerateliers allein könnte das Gelände vermutlich nicht bewirtschaftet werden. Die Mischung macht es: Neben den über hundert Künstlerateliers und den mittlerweile vierzehn Galerien haben sich hier auch Gewerke und Firmen ohne direkten Kunst- oder Kulturbezug angesiedelt. Zum Beispiel das SpinLab, wo sich Gründer mit ihren StartUp-Ideen zur Marktreife führen können, ein großes Call-Center, die ebenso zum Biotop der Baumwollspinnerei gehören, wie das Restaurant "Salzig" und die Bäckerei "nourish" im Eingangsgebäude.
12. Die gemeinnützige unter den kommerziellen Galerien: die HALLE 14
Der Kunstmarkt ist unerbittlich. Um als Künstler – und als Galerie – die Gunst der wenigen kaufkräftigen Sammler und Museen zu gewinnen, braucht es neben Talent eine gute Portion Glück und ein gutes Netzwerk. Arne Linde von der Galerie ASPN verweist darauf, dass die Rundgänge zwar Höhepunkte des Galeriejahres sind, aber ohne die großen Kunstmessen könnte keine der ansässigen Galerien in Leipzig überleben. Die Halle 14 mit dem hier ansässigen gleichnamigen Verein ist als einzige nichtkommerzielle Galerie frei vom Druck des Marktes.
Neben einer großen Kunstbibliothek kuratiert sie Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, die nicht unbedingt den Trends folgen müssen. Ein Ausnahmefall, der sich allerdings angesichts notorisch sinkender Fördertöpfe gegen steigende Kosten und stetig schrumpfende Fördermittel behaupten muss.
Quellen: Spinnerei Archiv
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 30. April 2025 | 07:40 Uhr