Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse"Vertraulichkeiten": Max Lobe untersucht Gewalt, Geschichte und Identität
Wie so viele afrikanische Staaten durchlebte auch Kamerun eine wechselhafte Geschichte: Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Land eine deutsche Kolonie. Nach dem Ersten Weltkrieg teilten Frankreich und Großbritannien das Gebiet unter sich auf. In den 50ern begann der Kampf um die Unabhängigkeit. Wieviel von dieser Geschichte ist noch präsent, fragte sich der kamerunisch-schweizerische Autor Max Lobe. Der junge Leipziger Verlag akono hat sein Buch "Vertraulichkeiten" nach Deutschland gebracht. Nun hat der Roman Chancen auf den Preis der Leipziger Buchmesse 2023.
Eines der größten Probleme bei der Aufarbeitung des Kolonialismus ist vielleicht das Schweigen. In europäischen Schulen und der breiten Gesellschaft wird kaum darüber gesprochen, was in den kolonisierten Ländern geschehen ist und wie sie sich befreit haben. Das merkte auch der Autor Max Lobe, der in Kamerun geboren wurde und aufgewachsen ist, aber schon seit einigen Jahren in der französischsprachigen Schweiz lebt.
Literatur mit besonderem Sound
Sein Roman "Vertraulichkeiten" ist die literarische Verarbeitung dieser Reise, dieser Spurensuche. Mithilfe seiner Familie, die immer noch in der kamerunischen Großstadt Duala lebt, konnte Max Lobe eine Frau treffen, die den blutigen Unabhängigkeitskampf miterlebt hat: Mâ Maliga.
Auszug aus dem Roman "Vertraulichkeiten"
Nimm, mein Sohn. Trink ein bisschen von diesem guten Matango. Ekiééé! Nicht so schnell. Warum hast du es so eilig, als hättest du Durchfall? Langsam! Gieß zuerst einmal ein bisschen davon auf den Boden für unsere Toten und unsere Ahnen. Schau. Mach es wie ich. So. Gaaanz genaaau. Gut. Jetzt kannst du trinken.
Mit ihr wandelt Lobe auf den Spuren von Um Nyobè. Dabei taucht der prägende Unabhängigkeitskämpfer Kameruns in der Erzählung kaum in Person auf. Stattdessen wirkt er eher wie eine unsichtbare Antriebsfeder, die mit Reden Hoffnung in die Köpfe der Menschen setzt. Und so erzählt Maliga auch mehr von ihren Erlebnissen, dem Streit in ihrer Familie und den Veränderungen in ihrem Dorf.
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Chance auf Preis der Leipziger Buchmesse 2023
Dabei hat Max Lobe seiner Protagonistin einen besonderen Sprachklang abgelauscht. Der Großteil des Romans ist von einer Mündlichkeit geprägt, in der Maliga immer wieder kurz abschweift, neuen Palmwein eingießt oder versucht, sich an einen Namen zu erinnern. Allein die Sprache charakterisiert die Figur als eine Frau, die sich zwar selbst nicht für klug hält, aber dennoch clever und scharfzüngig ist. Die behauptet nichts von der "wahren Wahrheit" oder dem "Politik-Politik-Dingsbums" zu wissen und nennt Max Lobe einen "Langen-Bleistift-Intellektuellen". In Ihre Ausführungen mischen ständig Ausrufe auf Bassa und das langgezogene "Gaaanz genaaau".
Für die Übersetzerin Katharina Triebner-Cabald bestand also die größte Herausforderung darin, diesen besonderen Sound zu bewahren und für deutsche Ohren erkennbar zu machen. Zu recht lobt die Preis-Jury der Leipziger Buchmesse diese Leistung. Allerdings kostet es auch etwas Mühe, sich mit dieser eigensinnigen Stimme vertraut zu machen.
Für die melodiöse und humorvolle Oralität der Stimme von Mâ Maliga und die pointierten Beobachtungen des Ich-Erzählers hat Katharina Triebner-Cabald überzeugende deutsche Entsprechungen gefunden.
Aus der Jury-Begründung
Roman voller spannender Figuren
Die Sprache in "Vertraulichkeiten" wird beinahe beiläufig selbst zum Thema: In dem Sprachmix wird die Kolonialgeschichte spürbar. Die Älteste in Maligas Dorf nutzt immer wieder deutsche Beleidigungen, und die Figuren in der Erzählung haben zwei Namen – denn die französischen Kolonialisten wollten den Menschen in Kamerun ihre Identität als Bassa nehmen. Und so verlaufen die Konflikte mitten durch das Dorf.
Anstatt die Hochzeit seiner Tochter Maliga zu besuchen, geht Papa Bissou zur Wahl der Kolonialverwaltung – ein Affront für die Unabhängigkeitskämpfer. Doch der Mann, der Jean-Baptiste genannt werden will, hält die französische Herrschaft für einen Segen und seine Mitmenschen für Barbaren.
Max Lobe erzählt nicht von der großen Geschichte, sondern spannt ein gesellschaftliches Panorama im Kleinen auf, in dem noch mehr Themen stecken. Da ist die Tante, die während einer Unruhe zur Mörderin wurde. Ihr Mann ist geistig zerbrochen, als er für Frankreich in Indochina kämpfte, um mehr Anerkennung zu erhalten. Und Tonyè, die Mutter der Erzählerin, ordnet sich offiziell ihrem Mann unter. Doch sie lässt sich von den Ideen des Unabhängigkeitskampfes anstecken. Schließlich erhebt sie ihre Stimme und trennt sich von ihrem Mann. Insofern ist "Vertraulichkeiten" eine Emanzipationsgeschichte auf mehreren Ebenen. Am Ende spitzt sich der Konflikt weiter zu: Das gesamt Dorf wird eingesperrt und der Unabhängigkeitskämpfer Um Nyobè wird getötet.
Buch über die Suche nach der eigenen Idendität
Zwischendurch meldet sich der Autor selbst zu Wort, wobei seine Kapitel kürzer und verdichteter sind – eben ein Autor aus Europa. Er beschreibt, wie er zu Mâ Maliga fährt; fragt sich, ob seine deutschen Freunde etwas von der Geschichte der ehemaligen Kolonie Kamerun wissen. Immer wieder wird auch eine Kluft deutlich: Mâ Maliga gibt ihm zu verstehen, dass er manche Sachen nicht versteht, weil er "von dort" ist. Das erfährt Max Lobe auch, wenn er von seinen Verwandten als Besuch aus Mbeng vorgeführt wird und auch in einer Bar als solcher erkannt wird.
Auszug aus dem Roman "Vertraulichkeiten"
Ich spreche lautlos ein kurzes Gebet, an das ich mich nicht mehr erinnere. "Ruhe in Frieden"? "Möge Nyambè die behüten"?
Ich hatte es nicht gemerkt: Jetzt rollt mir langsam eine Träne über die rechte Wange.
Ich beeile mich, sie wegzuwischen. Ein bisschen beschämt. Darf ich weinen?
Max Lobe macht dabei deutlich, wie die Vergangenheit die Gegenwart beeinflussen kann und fragt sich gleichzeitig, was Kamerun eigentlich zu seiner Heimat macht. Darum ist "Vertraulichkeiten" nicht nur die nötige Aufarbeitung der Geschichte, sondern auch ein universelles Buch über die Suche nach der eigenen Identität.
Angaben zum Buch"Vertraulichkeiten" von Max Lobe
übersetzt von Katharina Triebner-Cabald
akono Verlag Leipzig
268 Seiten, Softcover
ISBN: 978-3-949554-07-0
Nominierte Bücher für den Preis der Leipziger Buchmesse
Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 23. März 2023 | 12:10 Uhr