Nominiert für den Preis der Leipziger BuchmesseDieser starke Debüt-Roman gibt türkischen Gastarbeiterinnen eine Stimme
Mit seinem Roman "Unser Deutschlandmärchen" ist der Lyriker und Verleger Dinçer Güçyeter für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Er erzählt darin die Geschichte seiner Familie und gibt vor allem seiner Mutter Fatma, die als türkische Gastarbeiterin nach Deutschland kam, eine Stimme. Auch Güçyeters eigene Erinnerungen ans Aufwachsen zwischen zwei Heimaten sind in das schonungslose wie poetische Buch eingeflossen. Ein starkes Debüt.
Schon Jahrzehnte vor den derzeit geführten Debatten um Asyl und Einwanderung holte Deutschland (bzw. damals die BRD) ganz gezielt Menschen aus Südeuropa in seine nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufstrebenden Industrieregionen. Vor allem Menschen aus der Türkei waren es, die an vielen Stellen des westdeutschen Wirtschaftssystems eingesetzt wurden und zugleich die sozialen Regeln ihrer alten Heimat mitbrachten und innerhalb ihrer Familien auch beibehielten. So erlebt es die aus Anatolien stammende Fatma, die im Jahr 1965 mit einem bereits nach Deutschland ausgewanderten türkischen Mann verheiratet wird.
Auszug aus dem Roman "Unser Deutschlandmärchen"
Nach einigen Monaten, mitten im Frühling, bringt der Busfahrer die Nachricht aus dem Dorf. Es gibt einen Verehrer für Fatma, aus Deutschland, er kommt in ein paar Tagen vorbei. Mutter schimpft und faucht nein, jeder Hirte kann meine Tochter haben, aber kein Fremder. Am nächsten Tag schon steht der Verehrer mit meinem jüngeren Onkel vor unserer Tür, er hat einen riesigen Kopf und ein Fahrrad. Auf meinem Hals die Goldtaler, um die Taille der rote Brautschleier, der Beweis meiner Jungfräulichkeit, besteige ich das Pferd und verlasse das Elternhaus, folge als Braut meinem Mann mit dem riesigen Kopf nach Deutschland. Es ist das Jahr 1965, mein neues Leben beginnt, in einem Land, wo man das Geld von den Bäumen pflücken kann. Ich weiß nicht, so hat man es uns erzählt.
Roman nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse
Der zentrale Begriff ihrer Familie und ihrer nun geschlossenen Ehe ist der der "Familienehre", ein vor allem gegenüber den Frauen repressiv ausgerichtetes Instrument zur Kontrolle und Regulierung des Alltags. Eine Alltagsordnung, um die das deutsche Denken des 21. Jahrhunderts mit Begriffen wie "mittelalterliche Strukturen" oder "Patriarchat" herumtaumelt – denn vom Alltag lässt sich nur im Detail, nicht in allgemeinen Wertungen erzählen.
Dieses Deutschlandmärchen ist sein erster Roman, und das Buch gehört gewiss zu denen, die uns länger als nur eine Saison beschäftigen werden.
Jörg Schieke, MDR KULTUR-Literaturkritiker
Die authentische Erzählung aber gelingt am besten denen, die ihre leibhaftige Erfahrung hier mit einbringen können, so wie Dinçer Güçyeter, Fatmas 1979 geborener Sohn. Er ist der in diese Verhältnisse erst hineingeborene, und dann, als Schriftsteller, auch ein Stück weit wieder herausgewachsenen Zeuge dieser Verhältnisse, von denen er sich letztlich emanzipieren will.
Buch gibt türkischen Gastarbeiterinnen eine Stimme
Denn Dinçer Güçyeter, der aus diesen Verhältnissen kommt, sieht jenen Riss, der die traditionelle türkische Gesellschaft durchzieht: Es ist der zwischen den Geschlechtern und lässt sich nur unvollkommen in den Kategorien und in der Sprache etwa des westdeutschen Feminismus beschreiben. Dort, wo Dinçer Güçyeters Mutter lebt, kommen die Theorien aus den Seminaren der Universitäten eher nicht an. Das Aufbegehren einer Figur wie Fatma muss woanders ansetzen – sie braucht, damit sie gehört wird, zunächst eine eigene Stimme, und eben diese Stimme gibt ihr ihr Sohn Dinçer Güçyeter.
Güçyeter bewältigt diese Aufgabe, indem er die Stimme seiner Mutter in diesem Roman mit seiner eigenen verschränkt oder beide Stimmen manchmal gegeneinander montiert. Mal spricht er, Dinçer, mal sie, seine Mutter. Zwischendurch, in poetischen Brechungen, auch der Gastarbeiterchor, die Eidechse, die Kräuter oder die Steine.
Bücher zu Migration und Herkunft
Kritik an Männlichkeit und Geschlechterrollen
Fatma eröffnet mit ihrem Mann Yilmaz in Westdeutschland eine Kneipe, sie arbeitet von früh bis spät; es ist eben das, was die aus Anatolien mitgebrachte Vorstellung von Ehre und Familie Mitte der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre hergibt:
Auszug aus dem Roman "Unser Deutschlandmärchen"
Meine Stelle in der Schuhfabrik kündige ich und beginne in einer anderen Firma, die Vergaser für Mercedes herstellt. Der Stundenlohn ist besser, so kann ich schneller die Schulden abbezahlen. Mit der Kneipe läuft es so einigermaßen, die Einnahmen sind nicht schlecht, doch unterm Strich bleibt es ein Verlustgeschäft. Die Spieler borgen sich Geld von Yılmaz, auch Freunde und Verwandte. Mit dem Geliehenen fahren sie heimlich in die Casinos oder in die Bordelle. Yılmaz schafft es nicht, nein zu sagen. Die Liste der Schuldner wird immer länger. Die Stammkunden bezahlen nur den Tee, dafür dürfen sie sich den ganzen Tag breit machen und Karten spielen. Für viele ist der Weg in die Küche kein Tabu: Jeden Tag werde ich von der überfüllten Spüle und vom leeren Kühlschrank empfangen.
Anders als seine Mutter, die an diesen Verhältnissen leidet, ohne sie doch je verlassen zu wollen, kann Dinçer dank seiner Leidenschaft für Literatur und Kunst andere Milieus für sich entdecken. Es ist ein durchaus schmerzlicher, konfliktreicher Abschied, ein Konflikt, der sich hier nicht nur zwischen zwei Generationen, sondern sogar zwischen grundlegenden Lebensprinzipien vollzieht:
Auszug aus dem Roman "Unser Deutschlandmärchen"
Während diese Geschichten erzählt wurden, wuchs auf deiner Stirn eine Fledermaus, Mutter. Du schwiegst über die Verbrechen und sprachst genauso wie diese ungeschliffenen Menschen, die keine Scheu hatten, die Ehre von unschuldigen Frauen mit Füßen zu treten und dabei die animalischen Instinkte der Männer zu verteidigen. An solchen Abenden sah ich dich als Mittäter, ich schämte mich für dich.
Güçyeters Alter Ego emanzipiert sich vom Milieu seiner Herkunft
Dinçer, je älter er wird, schaut immer unnachgiebiger auf seine Familie und seine eigene Mutter. Aber, und das eben ist die Stärke dieses Buch, er ist über seine eigene Herkunft der Biografie seiner Eltern zutiefst verbunden und kann jeden einzelnen Faden sichtbar machen: Wurden nicht die rückständigen Familienstrukturen der Eingewanderten von der deutschen Nachkriegsgesellschaft ganz dankbar und clever angenommen, weil damit eben auch willige, überall einsetzbare Arbeitskräfte ankamen? Dinçers Mutter wird am Ende konstatieren, dass ihr die westdeutschen Gewerkschaften, Politiker, Versicherungen oder Rentenkassen ebenso wenig weitergeholfen haben wie die alten Gesetze ihrer anatolischen Heimat.
"Unser Deutschlandmärchen" ein starkes Debüt
Der Fluchtpunkt der ganzen Geschichte, die Wendung gen Zukunft ist gewissermaßen dieses Buch und das allmählich sich abzeichnende Lebensmodell des Dinçer Güçyeter – der heute ein geachteter Autor und Verleger ist. Dieses Deutschlandmärchen ist sein erster Roman, und das Buch gehört gewiss zu denen, die uns länger als nur eine Saison beschäftigen werden.
Angaben zum Buch und Termine
Dinçer Güçyeter: "Unser Deutschlandmärchen"
Verlag Mikrotext
216 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-948631-16-1
Termine:
29. April, 19 Uhr: Lesung von Gedichten im Gohliser Schlösschen im Rahmen der Leipziger Buchmesse
29. April, 22:30 Uhr: Lesung im Rahmen der Veranstaltung "Die Unabhängigen - Spätausgabe" in der Schaubühne Lindenfels, Leipzig
4. Mai: Lesung in der Buchhandlung Rotorbooks, Leipzig
Nominierte Bücher für den Preis der Leipziger Buchmesse
Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 04. April 2023 | 17:10 Uhr