Interview mit Jens-Christian WagnerMemorial: Warum Thüringen das Zentrum der russischen NGO im Exil werden könnte
Die in Russland verbotene Menschenrechtsorganisation Memorial erhält den Friedensnobelpreis 2022. Seit ihrer Flucht hat Memorial-Gründerin Irina Scherbakowa in Jena eine Gastprofessur inne und einige Mitarbeitende der russischen NGO arbeiten in der Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar. Das seien Gründe, warum Thüringen zum Zentrum der Organisation im Exil werden könnte, erklärt der Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner im Gespräch bei MDR KULTUR.
MDR KULTUR: Memorial ist im Februar in Russland offiziell aufgelöst worden. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in den vergangenen Monaten geflohen und einige arbeiten bei Ihnen in der Gedenkstätte Buchenwald. Inwieweit denken Sie, dass der Friedensnobelpreis der Organisation hilfreich sein kann?
Jens-Christian Wagner: Zunächst mal ist es eine Würdigung der Arbeit und eine Würdigung von Russinnen und Russen, die Menschenrechtsarbeit in ihrem eigenen Land und jetzt zum Teil auch aus dem Ausland heraus betreiben – und sich auch deutlich gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gewandt haben.
Vermutlich ist es dem Putin-Regime mehr oder weniger egal, ob dieser Preis an Memorial vergeben wird.
Jens-Christian Wagner
Das ist eine wichtige Würdigung. Es ist ein wichtiges Signal, ob das in Russland hilft, das wage ich in Frage zu stellen. Vermutlich ist es dem Putin-Regime mehr oder weniger egal, ob dieser Preis an Memorial vergeben wird. Aber es ist trotzdem wichtig, weil es eine internationale Würdigung dieser Arbeit ist.
Sie haben mit der Gedenkstätte gerade erst ein Netzwerktreffen organisiert. 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Memorial haben sich da bei Ihnen ausgetauscht. Was haben Sie denn mitbekommen, wie die Stimmung unter diesen Menschen ist?
Die Stimmung ist bedrückt in mehrfacher Hinsicht. Natürlich haben sich die Kolleginnen und Kollegen über den Friedensnobelpreis gefreut, insbesondere natürlich auch Irina Scherbakowa, die nach Oslo fahren wird, um diesen Preis in Empfang zu nehmen. Aber ansonsten ist die Stimmung bedrückt. Zum einen, weil man um Familienangehörige und Kolleginnen und Kollegen, die in Russland geblieben sind, bangt.
Zum anderen, weil die eigene berufliche, aber auch persönliche Zukunft unter vielen Fragezeichen steht. Unter anderem auch dadurch bedingt, dass die Arbeitsmöglichkeiten, die wir drittmittelfinanziert den Kolleginnen und Kollegen in den Gedenkstätten schaffen konnten, dass diese Verträge zunächst mal bis Ende des Jahres befristet sind. Immerhin wurden 40 Leute von Memorial in deutschen Gedenkstätten und Museen untergebracht. Das Ganze wurde maßgeblich von der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur finanziert, und wir sind dabei, Möglichkeiten zu eruieren, dass die Verträge verlängert werden können.
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Ein Eindruck von der Arbeit der Organisation im Exil: Wie funktioniert das denn überhaupt? Was macht Memorial, wenn die Menschen hier sind in Deutschland, um die eigene Arbeit voranzubringen?
Das ist zum einen Netzwerkarbeit. Zum anderen arbeiten sie an den Projekten, an denen sie in Russland gearbeitet haben, weiter - sobald das möglich ist - aus Deutschland heraus.
Wir versuchen auch die Arbeitsformen und die Arbeitsaufgaben der Kolleginnen und Kollegen vom Memorial mit unseren eigenen Aufgaben zusammenzubringen. Zum Beispiel Forschung über sowjetische Häftlinge in den Konzentrationslagern, Forschungen über das sowjetische Speziallager Nr. 2 in Buchenwald – das sind alles Dinge, bei denen uns die Kolleginnen und Kollegen vom Memorial unterstützen.
Haben Sie auch Ideen, Herr Wagner, wie man die Arbeit der Organisation im Exil langfristig unterstützen und sichern kann?
Ja. Tatsächlich hat sich in Thüringen so etwas wie eine Exil-Organisation von Memorial gebildet, zunächst noch informell. Indem Irina Scherbakowa eine Gastprofessur an der Universität Jena hat. Auch die versuchen wir über den Sommer nächsten Jahres hinaus zu verlängern, wenn die auslaufen wird. Das machen wir gemeinsam mit dem Imre Kertész Kolleg in Jena.
Tatsächlich ist es die Idee, auch eine formelle Exil-Organisation von Memorial zu schaffen. Da kann Thüringen ein Zentrum sein
Jens-Christian Wagner
Tatsächlich ist es die Idee, auch eine formelle Exil-Organisation von Memorial zu schaffen. Da kann Thüringen ein Zentrum sein, weil wir doch eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen von Memorial in Thüringen untergebracht haben. Nicht nur in der Gedenkstätte Buchenwald, sondern auch bei der Stiftung Ettersberg.
Dieses Gespräch ist ein Auszug aus dem Interview von MDR KULTUR mit Jens-Christian Wagner am 9. Dezember 2022. Das Interview führte Ellen Schweda.
(Redaktionelle Bearbeitung: Valentina Prljic)