64. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und AnimationsfilmFünf Filmtipps für das DOK Leipzig 2021
Das DOK Leipzig kehrt zurück in die Kinos: Vom 25. bis 31. Oktober 2021 zeigt das 64. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm 170 Filme aus aller Welt: darunter Animationskunst aus Chile, packende Dokus über Warschau und Berlin und Kolonialismus in den USA. Im Anschluss an das Festival sind die Filme bis Mitte November im Netz zu sehen. Darüber hinaus zeigt der MDR im Rahmen des Events "MDR Dok around the Clock" eine Reihe preisgekrönter Dokumentarfilme. Diese fünf Filme sind besonders sehenswert.
Auf dieser Seite:
- "The Balcony Movie" – Intimer Einblick in eine Warschauer Nachbarschaft
- "Only the Earth and the Mountains" – Über den langen Schatten des Kolonialismus in den USA
- "Jedermann und Ich" – Persönliches Beziehungsporträt von zwei Künstlerpersönlichkeiten
- "Kopf Faust Fahne - Perspektiven auf das Thälmanndenkmal" – Collage zeigt Berlin aus einer anderen Zeit
- "The Bones" – Aktuelle Animation trifft historischen Trickfilm
"The Balcony Movie" – Intimer Einblick in eine Warschauer Nachbarschaft
Ist das hier der ultimative Corona-Film? Dokumentarfilmregisseur Paweł Łoziński wohnt in Warschau in einer ruhigen Seitenstraße mit Wohnblocks aus den 1920ern und großen Straßenbäumen. Er baut auf dem Balkon seiner Wohnung, die in der ersten Etage liegt, eine Kamera auf, richtet sie auf den Bürgersteig und lässt sie laufen. Über ein ganzes Jahr lang. Immer wieder. Aus dieser Perspektive – quasi mit Corona-Abstand – spricht er dann Passanten an, fragt, wer sie sind und was sie machen. Und auch nach dem Sinn des Lebens.
Erstaunlicherweise lassen sich die meisten Passanten darauf ein. Der Regisseur kommt mit vielen ins Gespräch. Menschen aus der Nachbarschaft tauchen immer wieder auf. Beziehungen entstehen, weil man das Gespräch dort fortsetzt, wo es neulich aufhörte. Junge, Alte, Familien, Alleinstehende, natürlich auch die Hausmeisterin, Demonstranten – alle teilen sich mit. "The Balcony Movie" ist auch ein Film, der den Menschen als soziales Wesen vorstellt und dabei beweist, dass es dazu nicht zwangsläufig digitale Plattformen braucht.
Erstaunlich ist auch, wie lange das Setting trägt. Langeweile? – Pustekuchen! Am Ende entsteht ein Porträt unserer Zeit. Die Pandemie findet darin fast keinen Raum. Keiner trägt die Maske vor dem Mund oder unter dem Kinn, nur einmal lugt sie bei der Hausmeisterin aus der Manteltasche. Es ist auch ein philosophischer Film. Wie ein Gott agiert Paweł Łoziński, wenn er vom Balkon herunter fragt: "Adam, wo bist du?" Großes Kino!
Wann & WoWettbewerb um den Publikumspreis
Polen 2021, Dokfilm, 100 Minuten, Deutsche Premiere
26. Oktober, 20:30 Uhr, Passage Kinos
28. Oktober, 20 Uhr, Polnisches Institut
29. Oktober, 13:30 Uhr, CineStar
ab dem 1. November online
"Only the Earth and the Mountains" – Über den langen Schatten des Kolonialismus in den USA
Im November 1864 verübten 600 Soldaten der US-Kavallerie unter Oberst John M. Chivington ein Massaker an den Stämmen Cheyenne und Arapahos. 105 Frauen und 28 Männer starben, teilweise wurden die Angegriffenen skalpiert oder Geschlechtsteile als Trophäen abgeschnitten. Der Angriff auf das Winterlager der Cheyenne und Arapahos erfolgte in Zeiten eines Goldrausches. Die indigene Bevölkerung wurde damals in die Enge getrieben. Oberst Chivington nutzte offenbar eine Gelegenheit, um kurzen Prozess zu machen. Allerdings gegen die erklärten Regeln der Kriegsführung und Absprachen.
Den Indigenen wurde zuvor zugesagt, dass es keinen Angriff geben würde, wenn sie sich friedlich verhalten würden – was sie taten. Als sie angegriffen wurden, hissten sie sogar die US-Flagge als Zeichen. Die amerikanische Öffentlichkeit war schockiert und die Sache wurde vor dem US-Kriegsministerium näher untersucht. Am Ende blieb die Sache aber ohne Konsequenzen. In ihrem Dokumentarfilm geht es Elleni Sclavenitis um das lange Nachwirken dieses Massakers, um Möglichkeiten der Erinnerung und um Unmöglichkeiten in der bisherigen Darstellung.
Die Regisseurin zeigt zum Beispiel ein Denkmal, das der Kavallerie huldigt, die das Massaker damals durchführte. Es stand vor dem Parlamentsgebäude in Colorado, und wurde erst 2020 abgebaut. Sie zeigt aber auch Cheyenne und Arapahos, die sich heute noch treffen, um dem Massaker zu gedenken. Es sei noch in der vierten Generation präsent, sagt eine Frau im Interview. Dazwischen werden immer wieder großartige Aufnahmen unberührter Landschaften eingespielt, die zu schön aussehen, zu friedvoll, als dass man sich hier ein derartiges Blutvergießen vorstellen könnte. Es ist ein Film, der die langen Schatten des Kolonialismus in den Fokus nimmt. Ohne eine vordergründig anklagende Geste. Sehenswert!
Wann & WoInternationaler Wettbewerb Kurzfilm
USA 2020, Dokfilm, 29 Minuten, Internationale Premiere
26. Oktober, 13.30 Uhr Cinestar
26. Oktober, 21.00 Uhr Cinémathèque
30. Oktober, 18.00 Uhr CineStar
31. Oktober, 17.00 Uhr Regina Palast
ab dem 1. November online
"Jedermann und Ich" – Persönliches Beziehungsporträt von zwei Künstlerpersönlichkeiten
Das erste Bild: eine Totale mit flachem Stausee. Ein Löffler stolziert hindurch und fliegt weg. War es das schon? Dieser ganze Film als Essenz, hier kurz zusammengefasst in diesem Prolog? Es handelt sich um einen Film, der in voller Länge etwas zeigen will, was vielleicht nur schwer zu zeigen ist. Etwa die Suche nach der Wahrheit in der Hingabe an die Kunst. Es ist auch ein Film über Nähe und Distanz, der eine Dreiecksbeziehung thematisiert zwischen einer Dokumentarfilmerin, einem Schauspieler und einer Kamera respektive einem Fotoapparat.
Katharina Pethke filmt in schwarzweiß. Sie ist eine Meisterin der Montage, was immer auch die Soundspur umfasst. Steht das Bild still, übernimmt der Ton die Bewegung. Pethke filmt aus der Ich-Perspektive. Dieses Ich zieht in eine neue Stadt und hat eine neue Arbeit. Irgendwann ist er – der Schauspieler – da und schläft wohl im selben Bett wie die Filmemacherin, glaubt man den Bildern. "Während ich mit meiner neuen Rolle haderte", sagt das Ich, "wechselt er mühelos seine verschiedenen Identitäten. Konnte alles sein und jeder."
Der Film heißt dann auch "Jedermann und ich". Was neben jeder sein auch den "Jedermann" bedeutet, den der Schauspieler Philipp Hochmair in Salzburg spielt. Am Ende ist es wohl ein Abschied, eine Art "Winterreise" und ein sehr persönliches Doppelporträt über zwei Künstlerpersönlichkeiten. Eine Annäherung der besonderen Art, die immer wieder neue, großartige Bilder findet. Wahrhaft ein schöner, wirklich künstlerischer Dokumentarfilm.
Wann & WoDeutscher Wettbewerb
Deutschland 2021, Dokfilm, 65 Minuten, Weltpremiere
26. Oktober, 18 Uhr, CineStar
27. Oktober, 10:30 Uhr, Passage Kinos
30. Oktober, 20:30 Uhr, Schaubühne Lindenfels
ab 1. November online
"Kopf Faust Fahne - Perspektiven auf das Thälmanndenkmal" – Collage zeigt Berlin aus einer anderen Zeit
Betina Kuntzsch ist mittendrin in ihrem Kunststudium an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, als zu Hause, im Prenzlauer Berg, ein Ernst Thälmann-Denkmal enthüllt wird. Es sei ein "Koloss" aus 50 Tonnen Bronze. Zu schwer, um ihn 1993 abzureißen. Seit 2014 steht er unter Denkmalschutz. Betina Kuntzsch erkundet aber nicht nur die Geschichte des Denkmals, sondern formt in zehn Kurzfilmen, die alle zusammen den gesamten Film ergeben, eine größere Geschichte: ein Porträt Berlins, eines Stadtteils, aus Sicht der Künstlerin.
Die Regisseurin formt ein Porträt, das Fühler in die Gründerzeit, in die Industrie- und Gesellschaftsgeschichte der Stadt ausstreckt und mit persönlichen Erlebnissen kombiniert. Auch formal kommt diese Kollagetechnik hier an den Start, indem Betina Kuntsch neue Bilder und gefundenes Archivmaterial grafisch überzeichnet und montiert.
Indem die Regisseurin hier zehn Perspektiven auf ein Denkmal zusammenbringt, die oftmals auch wie naiv vorgetragen wirken, entsteht ein kaleidoskopartiges Gesamtbild, in dem Reibung und Widerspruch entsteht. Der Zuschauer kann sich seinen eigenen Reim machen. Auch wenn Betina Kuntzsch am Ende doch noch einen Kommentar gibt und feststellt, das Denkmal wirke auf sie wie ein "Fossil aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt". Gut, dass es stehengeblieben ist!
Wann & WoDeutscher Wettbewerb
Deutschland 2021, Dokfilm, 47 Minuten, Weltpremiere
27. Oktober, 15 Uhr, CineStar
28. Oktober, 19:30 Uhr, Hauptbahnhof Osthalle
29. Oktober, 16:30 Uhr, CineStar
ab dem 1. November online
"The Bones" – Aktuelle Animation trifft historischen Trickfilm
Fake oder Realität? Die Restauratoren Joaquín Cociña und Cristóbal León entdecken bei Ausgrabungsarbeiten für das Neue Museum in Santiago di Chile einen Trickfilm aus dem Jahr 1901 – eine Weltsensation. Seine Handlung: Constanza Nordenflycht, hier vorgestellt als eine Puppe, zeigt im Puppentheater eine Performance mit dem Titel "Los Huesos" – übersetzt: die Knochen.
Diese erscheinen auch prompt aus der Versenkung und setzen sich im Laufe der Handlung zu zwei Männern zusammen: einem Priester und dem chilenischen Politiker Diego Portales, der sich 1837 mit Constanza Nordenflycht verheiratet und diese Heirat wieder auflöst. Nordenflycht löst sich daraufhin in Luft auf. Die beiden Männer bleiben erstarrt im Schnee übrig. Realität oder Fake? Joaquín Cociña und Cristóbal León sind zwei chilenische Filmemacher im Hier und Heute, die sich um die Freiheit im Land sorgen.
In der Maske eines Stop-Motion-Animationsfilms lassen sie zwei Politiker auferstehen. Den schon genannten Politiker Diego Portales, der im 19. Jahrhundert quasi die Grundlagen für die Diktatur im 20. Jahrhundert gelegt haben soll, sowie Jaime Guzmán, den man vielleicht als Chefideologen von Dikator Pinochet bezeichnen könnte. Constanza Nordenflycht war wirklich die Geliebte von Portales, dem sie drei Kinder gebar. Glücklich war sie nicht. Und das Neue Museum wird auch gebaut. Am Ende also ein makaberes Vexierspiel mit untoten Bösmenschen. Und tolle Animationskunst!
Wann & WoInternationaler Wettbewerb Kurzfilm
Chile 2021, Animationsfilm, 14 Minuten, Deutsche Premiere
26. Oktober, 10:30 Uhr, CineStar
26. Oktober, 14 Uhr, CineStar
27. Oktober, 17:30 Uhr, Regina Palast
28. Oktober, 20:30 Uhr, Schaubühne Lindenfels
ab 1. November online
Mehr Informationen zu "MDR Dok around the Clock"
In Zusammenarbeit mit DOK Leipzig hat der Mitteldeutsche Rundfunk in diesem Jahr das Programmevent "MDR Dok around the Clock" ins Leben gerufen. Am 27. Oktober zeigt der MDR rund um die Uhr erstklassige Dokumentarfilme im Kino, im Fernsehen sowie in der ARD Mediathek. Unter den gezeigten Filmen befinden sich zahlreiche Filmpreisgewinner wie "Lord of the Toys", "A new shift" und der Oscar-nominierte Thriller "Shift". Eröffnet wird "MDR Dok around the clock" mit einer Weltpremiere am 27. Oktober um 19:30 Uhr im Leipziger Hauptbahnhof mit der MDR-Koproduktion "The cars we drove into capitalism" von Boris Missirkov und Georgi Bogdanov.
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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 25. Oktober 2021 | 08:10 Uhr