Originalbild der Ecke
Um dieses Foto dreht sich die Doku "Die Ecke". Es zeigt eine Straßenecke im Thüringischen Ort Oberdorla im April 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, während des Einmarschs von US-Soldaten. Bildrechte: MDR/National Archive Washington/T.C. Romero

Ab 23 Uhr in der ARD Mediathek Doku "Die Ecke" über ein rätselhaftes Foto aus dem Zweiten Weltkrieg

21. April 2023, 04:00 Uhr

Ein Schuss auf einen amerikanischen Soldaten im Jahr 1945, eine Momentaufnahme vom Tatort im thüringischen Oberdorla (Unstrut-Hainich-Kreis) und viele Fragen, die bis heute offenbleiben: In Christa Pfafferotts künstlerischem Dokumentarfilm wird eine Straßenecke zur lokalen Bühne, auf der die große Weltgeschichte erscheint. Seine Premiere hatte der Film beim DOK Leipzig. Nun wird er im MDR Fernsehen gezeigt und ist in der ARD Mediathek abrufbar.

Der Ausgangspunkt könnte nicht schlichter sein: ein Film über eine Straßenecke in einem unbekannten Dorf in Thüringen. An dieser Ecke ist etwas passiert. Im April 1945 wurde hier ein junger amerikanischer Soldat, vermutlich aus dem Hinterhalt, erschossen. Ansonsten wäre die sechste Panzerdivision der dritten US-Armee wohl einfach durch Oberdorla hindurchgerollt. Doch die Ecke hielt sie auf. Sie wurde zum Tatort.

Man könnte einwenden, dass das lange her ist und damals ganz Europa ein Tatort war. Doch in diesem Fall entstand wenige Sekunden nach der Tat ein Foto mit Symbolcharakter, das es auf die Titelseite amerikanischer Zeitungen brachte und vor kurzem in einer kolorierten Fassung im Internet wieder auftauchte: der Tote am Boden, drei Kameraden in Aktion rund um die Ecke, ein Panzer auf der Dorfstraße kurz vor dem Verschwinden. Eine Momentaufnahme, die etwas Elementares über den Krieg auszusagen scheint, aber auch Rätsel aufgibt. Wer hat sie gemacht? Wer hat geschossen? Und wieso berührt es den Betrachter noch heute?

Film "Die Ecke" spannend wie ein Krimi

Die in Hamburg lebende Regisseurin Christa Pfafferott bewegte das Foto zu einer im Ansatz kriminalistischen Recherche vor Ort. Gleich zu Beginn des Filmes lässt sie zum Abgleich das vergrößerte Foto vor die Kamera halten: Die Ecke heute wirkt fast genauso wie auf dem Bild. Und schon beginnen sich die Zeitebenen zu überlagern.

Der Film ist keine Reportage, sondern ein künstlerischer Dokumentarfilm. Ganz bewusst schafft er Gelegenheiten für Begegnungen, die ohne ihn nicht stattgefunden hätten, jetzt aber Teil der Geschichte werden. Bis zum Schluss gelingt es, der Ecke immer neue Dimensionen abzutrotzen.

Ein Foto wird vor ein Haus gehalten
Während der Dreharbeiten in Thüringen wurde die hier aufgenommene Szene aus dem Jahr 1945 nachgestellt. Bildrechte: DOK Leipzig 2022/Sinn-Filmproduktion

Doku mit Thüringer Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs

Es ist eine Dramaturgie der Auftritte. Da ist die ältere Zeugin, die dem Toten als Fünfjährige ins Angesicht schaute. Den Tod des Fremden verbindet sie mit dem ihres Vaters genau ein Jahr vorher. Da ist der Nachbar, den es stört, dass die Gedenktafel für den Soldaten aus Texas vor seinem Haus zu groß geraten ist.

Einige Skeptiker glauben nicht an die Anwesenheit eines deutschen Scharfschützen und tippen auf "Friendly Fire" aus den eigenen Reihen, einen Unfall. Sie argumentieren mit Unstimmigkeiten auf dem Dokument. Aber ist das Foto als Schnappschuss überhaupt glaubwürdig? Oder wurde hier etwas zeitnah und medienwirksam nachgestellt?

Wie Hitler Teile des thüringischen Dorfs bis heute prägt

Ein Forensiker wird hinzugezogen, um ein 3D-Modell des Tatorts anzufertigen. Sogar die junge Frau aus Schweden tritt auf, die das Foto koloriert hat. Das Verfahren des Kolorierens wird im Film zur Metapher. Es holt die Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Und sie kommt einem sogar näher, als einem lieb ist.

Einer der Skeptiker tüftelt in seiner Garage an alten Militärfahrzeugen herum. Dahinter hat er gerahmte Bilder von Hitler, Honecker, Mao Zedong arrangiert. Ein Regenmantel der Hitlerjugend an der Wand – für den Sammler "auch nur ein Regenmantel". Sein Museum des Postfaktischen bekommt eine gespenstische Dimension, wenn in historischen Aufnahmen die Hitlerjugend durch das Dorf zieht. Nicht oft wird in Filmen Archivmaterial so wirkungsvoll eingesetzt. Dazu gehören auch Filmaufnahmen der Amerikaner, die ins Dorf einziehen – das Vorspiel zur Tat.

Nachfahre des toten US-Soldaten kehrt an Tatort zurück

Fast erwartet man, dass der tote Soldat selbst auftritt. Doch statt seiner erscheint ein Nachfahre aus Texas auf der Bühne. Er trägt sogar den Namen des Großonkels, bringt Briefe aus dem Krieg mit. Sein Erscheinen löst im Dorf starke Emotionen aus. Zu den Höhepunkten zählt sein Besuch bei der alten Zeugin und beim Skeptiker in seiner Garage. Im ersten Fall verständigen sich zwei fremden Welten, im zweiten nicht.

Alle haben ihre Wahrheit, könnte man meinen, aber der Gast aus Amerika beharrt freundlich auf Indizien. Was wirklich geschehen ist, werden wir zwar nicht erfahren, das heißt aber nicht automatisch, dass die Wahrheit relativ ist. Man kann vieles unternehmen, um ihr möglichst nahe zu kommen. Genau das tut der Film, ohne sein Publikum zu bevormunden.

Informationen zum Film

"Die Ecke"
Deutschland, 2022
Regie: Christa Pfaffenrott
Länge: 90 Minuten

Die Doku ist ab dem 21. April in der ARD Mediathek verfügbar. Am 23. April läuft der Film um 23:05 Uhr im MDR Fernsehen.

Redaktionelle Bearbeitung: Hendrik Kirchhof

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 23. April 2023 | 23:05 Uhr