Publikum im Kinosaal
Im Kinoklub Erfurt diskutierten am Sonntagabend (24. April) Dr. Christiane Bürger, Israel Kaunatjike und Dr. Sahra Rausch über den Umgang mit kolonialem Erbe in Deutschland (v.l.n.r.) Bildrechte: MDR/Melanie Lal

Debatte Bereichernde Diskussion über Kolonialismus im Kinoklub Erfurt

24. April 2023, 14:10 Uhr

Deutschland erwacht langsam aus seiner kolonialen Amnesie. Vor allem der Völkermord an den OvaHerero und Nama im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, in den Jahren 1904 bis 1908 steht dabei im Fokus. Müssen wir als Gesellschaft mehr über Kolonialismus sprechen? Um diese Frage drehte sich eine Diskussion im Kinoklub Erfurt nach der Vorführung des Films "Der vermessene Mensch" von Lars Kraume.

Von 1884 bis 1915 bestand auf dem Gebiet des heutigen Namibias die deutsche Siedlerkolonie "Deutsch-Südwestafrika" (DSWA). Der Völkermord an den OvaHerero und Nama gehört zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Kolonialgeschichte: Zwischen 1904 und 1908 wurden mindestens 54.000 (einige Quellen sprechen von bis zu 100.000 Toten) OvaHerero und Nama systematisch ermordet, vergewaltigt und in Konzentrationslager verschleppt.

Der damalige deutsche General Lothar von Trotha (1848 bis 1920) gab den Schießbefehl: "Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen […]." (Quelle: Bundesarchiv) Viele OvaHerero flohen in die Omaheke-Wüste und verdursteten. Obwohl dieser Völkermord als der erste seiner Art im 20. Jahrhundert gilt, wurde er in der deutschen Öffentlichkeit und Politik lange Zeit ignoriert. Erst in den letzten Jahren hat sich die Debatte um Anerkennung, Entschuldigung und Entschädigung der Opfer und ihrer Nachkommen intensiviert. Der Film "Der vermessene Mensch" des Regisseurs Lars Kraume trägt dazu bei.

Kolonialismus im Film: "Der vermessene Mensch"

Der Film handelt von einem jungen Ethnologie-Doktoranden der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt Universität zu Berlin), der in die ehemalige Kolonie "Deutsch-Südwestafrika" reist und dort den Völkermord miterlebt. Nach Fertigstellung des Films wurde er in Windhoek zahlreichen OvaHerero und Nama gezeigt, ohne dass es negative Reaktionen von dieser Seite gab. Der Film feierte bei der diesjährigen Berlinale Premiere und läuft seit dem 23. März in den deutschen Kinos, bisher mit über 70.000 Zuschauern.

In Erfurt war der Film am Sonntag zu sehen, und eine Filmvorführung mit anschließender Diskussion wurde am Sonntag von der Wissenschaftlichen Koordinationsstelle "Koloniales Erbe in Thüringen" (KET) in Kooperation mit dem Kinoklub Erfurt organisiert.

Szene aus dem Film "Der vermessene Mensch": eine Schwarze Frau steht vor einer Hütte
Girley Charlene Jazama als Kezia Kambazembi im Film "Der vermessene Mensch" Bildrechte: Zero One Film

Diskussion in Erfurt mit Herero-Aktivist: "Wir wollen mitgestalten"

Die Diskussion führten Bildungsreferent und Herero-Aktivist Israel Kaunatjike, Dr. Christiane Bürger (Universität Erfurt) und Dr. Sahra Rausch (FSU Jena). Israel Kaunatjike ist der einzige Herero, der in Deutschland lebt und sich hier aktiv für die Aufarbeitung einsetzt. Seine Frau ist Erfurterin, das Ehepaar lebt gemeinsam in Berlin und kam für die Veranstaltung nach Thüringen. 

Ein Mann mit grauem Haar spricht in ein Mikrofon
Israel Kaunatjike ist der einzige Herero, der in Deutschland lebt. Er nahm an der Diskussion in Erfurt teil, die im Kinoklub stattfand. Bildrechte: MDR/Melanie Lal

Kaunatjike betonte, dass es um "unsere gemeinsame Geschichte" gehe und es wichtig sei, Herero und Nama in die Aufarbeitung einzubeziehen: "Wir wollen keine Entwicklungshilfe. Wir wollen mitgestalten." So stehe, zum Beispiel, eine Entschuldigung der Evangelischen Kirche noch aus, so Kaunatjike.

Korrektur-Anmerkung der Redaktion In einer früheren Fassung des Textes hieß es an dieser Stelle: "So stehe, zum Beispiel, eine Entschuldigung der Evangelischen Kirche, die bereits im 15. Jahrhundert Missionare nach Afrika schickte, noch aus, so Kaunatjike."

Dies wurde nach Angaben der Autorin in der Veranstaltung so gesagt, ist aber sachlich falsch, da die Evangelische Kirche im 15. Jahrhundert noch nicht existierte. Die Textpassage wurde daher am 01.03.2024 von der Redaktion in Rücksprache mit der Autorin geändert.

"Kolonialismus hat auch in Thüringen Spuren hinterlassen"

Dr. Sahra Rausch kritisierte, dass die Aufarbeitung so lange gedauert habe. Kaunatjike meinte, dies könne damit zusammenhängen, dass die Herero und Nama nicht einbezogen wurden. Der Film trage nun dazu bei, viele Menschen zu erreichen: "Wir möchten das Thema [Kolonialismus] auch mit einer breiten Öffentlichkeit diskutieren – wie etwa heute im Kinoklub. Der Kolonialismus hat auch in Thüringen Spuren hinterlassen, die bis heute nachwirken und relevant sind", so Dr. Christiane Bürger.

Zwei Frauen und zwei Männer blicken freundlich in die Kamera, im Hintergrund sind Gebäude einer Altstadt zu sehen.
Dr. Christiane Bürger, Israel Kaunatjike, Dr. Sahra Rausch sowie Ronald Troué vom Kinoklub Erfurt (v.l.n.r.) Bildrechte: MDR/Melanie Lal

Eurozentrismus überwinden

In Deutschland gibt es nur wenige Formate, die beide Seiten der kolonialen Medaille zeigen: Oft wird ohne die Nachfahren der Opfergesellschaften diskutiert. Daher war die Diskussion mit Israel Kaunatjike besonders bereichernd. Alle Podiumsgäste waren sich einig, dass mehr über Kolonialismus gesprochen werden muss und dass es eine Verankerung in den deutschen Lehrplänen braucht. Insgesamt war die Diskussionsveranstaltung ein wichtiger Schritt hin zu einer offenen Debatte über kontroverse Themen und ein Aufruf, sich intensiver mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands auseinanderzusetzen.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Kulturtipps | 21. April 2023 | 09:45 Uhr