Filmfestival DOK Leipzig 2022: Diese fünf Filme sollten Sie nicht verpassen
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Vom 17. bis 23. Oktober 2022 dreht sich in Leipzig alles um das Thema Film. Beim Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (DOK Leipzig) werden in diesem Jahr 255 Filme und XR-Arbeiten aus 55 Ländern gezeigt. Auf dem Programm stehen zudem zahlreiche osteuropäische, vor allem auch ukrainische Filme. Wir haben fünf Empfehlungen für Sie, die Sie nicht verpassen sollten.

Blauer Himmel, weiße Wolken
"Bau auf, bau auf" – eine deutsche Jugend baut das Land in neu geschenkter Freiheit wieder auf. Nicht nur in Ost-, auch in Westdeutschland, hier Hamburg. Der Jugendliche macht irgendwas mit Medizin. Große Anerkennung im Beruf. Privat das klassische Muster: Mann und Frau, drei Kinder, ein moderner Bungalow. Späte Wirtschaftswunderzeit. Hinter bodentiefen Fenstern ein beheizter Swimmingpool. Geld spielt keine Rolex, sagte man im Westen. Im Kern also eine Erfolgsgeschichte. Und der Mann ist das Familienoberhaupt. Das ist die Vorgeschichte.
Dann der große Schnitt. Ein alter Mann steigt mühselig die Treppe hinab. "Live is Live" erklingt im Hintergrund, was dem Großvater Stichwort und Thema ist: Leben, das zu Ende geht. Die Strickjacke mit dem 80er-Jahre-Muster wird’s noch so lange machen. Ein Leben nach dem Tod? Sein ernster Blick in die Kamera: Vielleicht wünschenswert, wer weiß das schon. Dann wieder Schnitt. Großvater ist gestorben. Das Familienoberhaupt tot. Jetzt eine Leerstelle. Der Zerfall der Familie setzt ein. Auch die Großmutter, die immer noch so eloquent smalltalkt, hat im Kopf Speicherprobleme, sprich Demenz. Wie jetzt weiter? Astrid, die Enkelin, die hier auch Regisseurin ist, startet einen Versuch: eine Paddeltour mit der Großmutter von Bremen nach Kiel. Unter uns das Wasser, über uns der blaue Himmel, die weißen Wolken. Das grüne Kanu, das die Familie schon so lange begleitet, wird wieder flott gemacht.
Der Film spricht Vieles an, ohne es genau auszusprechen. Das große Thema ist Zerfall: Familie, Geist – auch Zeit! Was bleibt von der "Bau auf"-Generation übrig? Bleibt das Haus am Ende leer? Wer will und kann ein neues Oberhaupt sein? Große Fragen unserer Zeit!
Infos zum Film
"Blauer Himmel, weiße Wolken"
von Astrid Menzel
Deutscher Wettbewerb
Dokumentarfilm
Deutschland, 2022
91 Minuten
Deutsch
Untertitel: Englisch
Weltpremiere
Termin:
21. Oktober 2022 I 19:30 Uhr I Osthalle, Hauptbahnhof – Eintritt frei
Das Hamlet-Syndrom
Am Anfang Kriegsbilder, Bilder der Revolution: Polizisten hinter riesigen Schildern; brennende Barrikaden. Es ist das Jahr 2014, als der Krieg in der Ukraine begann. Bis heute dauert er an. Im Osten und Süden wird heftig gekämpft. Im Westen des Landes ist irgendwie schon Nachkriegszeit. Viele sind hierher geflohen, leben hier, wie die fünf, um die es hier geht: drei Männer und zwei Frauen, alle so um die 20 Jahre alt.
Sie entwickeln und proben ein Stück an einem Theater. Ausgangspunkt ist "Hamlet" und die Regisseurin fordert die fünf auf: "Stellt euch vor, ihr seid Hamlet!" Und erläutert: "Der hat in seinem Leben schwere Entscheidungen getroffen. Sucht nach Worten, die für euch stehen!" Der Film begleitet die fünf Protagonisten auf dieser Suche. Am Ende ist Premiere. Das Publikum klatscht. Alles wieder gut?
Sind die drei Männer und die zwei Frauen eigentlich Schauspieler? Ist das hier wirklich Theater? Oder ist das eine Therapie, der Ort ist eher Nebensache und Schauspieler sind sie, wenn überhaupt, nur für sich selbst, wenn sie sich ihre Biografien, Gefühle, Gedanken erzählen? Das sind hier die Fragen. Mehr Fragen als Sein oder Nichtsein. Die ist ja auch schon beantwortet, denn die fünf sind ja da. Die Fragen sind hier Fragen nach der Identität: Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Wer bin ich nach all dem, was ich erlebt habe?
Die Kamera bleibt auf Distanz: Halbtotale, selten näher dran. Selten weiter weg. Die meisten Szenen spielen im Theater. Manchmal auch draußen. Wenn der Ex-Soldat seinen Vater besucht. Tischtennis in der Garage. Der Vater: "Du hast mich zehn Jahre meines Lebens gekostet!" Der Sohn schluckt, überlegt, erwidert: "Erst wenn du dem Tod ins Auge siehst, weißt du, dass es das nicht wert war."
Mich hat der Film an Heiner Müllers "Hamletmaschine" erinnert. Sätze wie: "Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa." Im Film sind die Sätze kaum weniger stark. Bei Shakespeare ist Hamlet ein Suchender, dem am Ende die Worte versagen – deshalb: "Der Rest ist Schweigen!" Im Film wird "Hamlet" quasi von hinten aufgerollt. Am Anfang, nach den Erfahrungen des Krieges, ist Schweigen. Auf der Bühne finden fünf Hamlets ihre Worte wieder. Großes Kino!
Infos zum Film
"Das Hamlet-Syndrom"
Von Elwira Niewiera, Piotr Rosołowski
Wettbewerb um den Publikumspreis
Dokumentarfilm
Deutschland, Polen, 2022
85 Minuten
Ukrainisch, Russisch
Untertitel: Englisch
Deutsche Premiere
Termine:
18. Oktober 2022 I 17:30 Uhr I Passage Kinos Astoria
19. Oktober 2022 I 17:30 Uhr I Schaubühne Lindenfels
21. Oktober 2022 I 20 Uhr I CineStar 4
Die toten Vögel sind oben
Jürgen Mahrt, so der Film, sei eigentlich ein "typischer 1880er" – im Ersten Weltkrieg also eingezogen, viele starben, viele wurden verwundet, auch seelisch – Mahrt hatte Glück. War Fotograf an der Front, flog über die feindlichen Linien und fotografierte aus der Vogelperspektive feindliche Stellungen. Wieder am Boden, nach dem Krieg, werden Vögel sein neuer Lebensinhalt.
Er schleicht sich an, steht stundenlang still, bis die Vögel ihn quasi vergessen, dann schlägt er zu. Fotografiert die Eule im Nest; den Wiedehopf, den Habicht, wie er die Ente am Boden greift. Erst auf den zweiten Blick sieht man die Präparate. Mahrt hat die Vögel also gefangen, ausgestopft, in lebendigen Posen verewigt und dann in die Landschaft gestellt, fotografiert, die Fotos koloriert. War das seine Art, den Krieg zu verarbeiten?
Mit der Zeit werden die Objekte der Begierde leichter: Schmetterlinge, diesmal in Reih und Glied in Kästen. Die Landschaft fotografiert er extra. Landschaftsveränderungen, wo Wälder gefällt, Moore trockengelegt, Torf abgebaut wird. Mit der Landschaft verschwinden die Tiere. Mahrt tauscht seine Schmetterlinge mit einem Sammler in der Schweiz. Fährt wochenlang mit dem Rad dorthin. Macht einen Umweg über den Obersalzberg, wo Hitler seine Privatresidenz hat. Die fotografiert er zwei-, dreimal. Im Vordergrund ein Bauer auf Fuhrwerk. Die Hakenkreuzfahne kaum zu sehen. Was soll das?
Es gibt keine Antwort. Nur weitere Fotos am Vorabend des neuen Weltkriegs. Das Dorf vor der Kamera. Starrer Blick in die Linse. Wer war Jürgen Mahrt? Ein Prophet, der den beginnenden Klimawandel dokumentiert? Einer, der den Krieg zu sublimieren versucht, indem er aus Kameraperspektive auf Mensch und Tiere schießt? Ein Autist? Die Antwort muss jeder für sich selber finden. Urenkelin Sönje Storm hat für ihren Film großartige Bilder versammelt.
Infos zum Film
"Die toten Vögel sind oben"
Von Sönje Storm
Deutscher Wettbewerb
Dokumentarfilm
Deutschland, 2022
83 Minuten
Deutsch
Untertitel: Englisch
Weltpremiere
Termine:
18. Oktober 2022 I 15:30 Uhr I CineStar 2
20. Oktober 2022 I 17 Uhr I Regina Palast 5
22. Oktober 2022 I 21 Uhr I CineStar 5
Matter Out of Place
Sieben Tage lang erschafft Gott unsere Welt, indem er die Dinge sortiert: Tag und Nacht, Land und Wasser, Mensch und Tier. Seit dem achten Tag übernimmt der Mensch diese Rolle, sortiert auch, vor allem: Müll. Jedenfalls legt uns diesen Gedanken dieser großartige Film nahe. Regisseur Nikolaus Geyrhalter zeigt uns archaische Bilder eines Müllmanns, der in Nepal mit dem Dreirad in engen Straßen trillerpfeifend Müll sammelt. Auf einen LKW geladen, geht es ins Gebirge, wird abgekippt.
Auch auf der Bettmeralp entsteht Müll, ganz oben also. Er wird mit dem Müllauto, das unten an der Gondel hängt, ins Tal abtransportiert. Noch in den 70er-Jahren wurde in der Schweiz Müll in der Flussaue vergraben, Gras ist darüber gewachsen. Aber ein Bagger fördert alte Reifen, Blechdosen, selbst eine Zeitung zutage – es dauert lange bis der Müll vergeht. In Griechenland wird Müll sogar unter Wasser gesammelt, in Albanien nur am Strand – eine Sisyphosarbeit, das zeigen die Bilder, Standbilder, Totalen, die wie Wimmelbilder lange stehenbleiben, weil immer noch ein Detail entdeckt werden kann. Und mit der nächsten Flut alles nochmal.
Dann Palmen. Türkisfarbenes Wasser. Die Malediven. Das Paradies. Eine Hotellandschaft, die aufwendig gereinigt werden muss. Wer reich ist, muss den Müll nicht sehen. Wer arm ist, schon. Auch das zeigen die Bilder. Auch hier in den USA, Nevada, ein Techno-Festival namens "Burning Man", jährlich auf einem ausgetrockneten Salzsee abgehalten. Hinterher wird penibelst mit dem Besen noch die kleinste Zigarettenkippe weggefegt. Das ist dann schon der neunte Tag, ein Feiertag, an dem eine Art Heilige Messe zelebriert wird, um den Planeten wieder schön zu machen. Großes Kino!
Infos zum Film
"Matter Out of Place"
Nikolaus Geyrhalter
Internationaler Wettbewerb
Dokumentarfilm
Österreich, 2022
105 Minuten
Albanisch, Nepali, Schweizerdeutsch, Englisch
Untertitel: Englisch
Deutsche Premiere
Termine:
19. Oktober 2022 I 14:30 Uhr I Passage Kinos Astoria
20. Oktober 2022 I 11 Uhr I CineStar 4
23. Oktober 2022 I 20:30 Uhr I CineStar 2
Favorite Daughter
Ein Film, wie ein Gegenentwurf zu all den Katastrophen dieser Welt. Und das in kurz: nur 20 Minuten lang. Und als Kammerspiel-Ort: eine Wohnung in New York. Geschmackvoll, fast prunkvoll eingerichtet. Hier lebt die 90-jährige Sylvia Weinstock. Im Lockdown kommt Tochter Janet zu Besuch. Und Enkelin Dana, die die beiden dann filmt und auch selbst ins Bild kommt. Oft beim Essen zu dritt. Hühnchen, Fisch, Silberbesteck, die Flasche Weißwein (oder sind es am Ende drei?) darf nicht fehlen.
Die Dramaturgie des Kammerspiels ist so simpel wie überzeugend. Szene am Tisch, Nachfrage bei Mutter oder Großmutter. Kommentarebene der Enkelin aus dem Off. Bemerkenswert, wie respekt- und liebevoll drei Generationen miteinander umgehen. Kultiviert und reflektiert zugleich. Stichwort Katastrophen: So wie hier kann man also auch Mensch sein. Ohne Hass, Macht, Ohnmacht, Angst …
Großvater starb vor zwei Jahren. "Ich vermisse ihn furchtbar", sagt Sylvia. Und Janet, die eine Scheidung hinter sich hat, erzählt, sie sei danach natürlich auf Datingseiten gewesen. Was jetzt im Lockdown keinen Sinn mehr macht. Dann die Frage: Wie ist das mit Sex? Respekt und Rücksichtnahme, sagt Sylvia. Wann will er, wann will ich? "Partnership" eben. Einmal ist Sylvia noch draußen unterwegs. Einkauf auf dem Biomarkt: Salat, Hühnchen. Dann wieder am Esstisch, die Weinflasche fast leer und Sylvia: "Die Klitoris ist der spannende Ort für einen Orgasmus." Enkelin: "Aber das wissen doch alle." Großmutter: "Nein, wissen sie nicht. Eure Generation weiß das." Mutter: "Es gibt auch noch andere Wege zum Orgasmus: She squirts!" Großmutter: "She - what?!"
Wer Sylvia Weinstock googelt, findet die Frau mit der großen, runde Brille als meisterliche Konditorin wieder. Sie war berühmt für ihre XXL-(Hochzeits-)Torten mit prunkvoll, bunten Zuckerblumen. Oprah Winfrey und Kim Kardashian sollen für Partys bei ihr bestellt haben. 2020, als die Filmaufnahmen stattfinden, fühlt sich Sylvia "satisfied" und "complete" – ein erfülltes Leben also. Im November 2021 ist sie gestorben.
Infos zum Film
"Favorite Daughter"
Von Dana Reilly
Internationaler Wettbewerb Kurzfilm
Dokumentarfilm
USA, 2022
20 Minuten
Englisch
Untertitel: Keine
Internationale Premiere
Termine:
18. Oktober 2022 I 11:30 Uhr I CineStar 6
18. Oktober 2022 I 20:30 Uhr I Passage Kinos Astoria
19. Oktober 2022 I 14 Uhr I CineStar 4
21. Oktober 2022 I 18 Uhr I Passage Kinos Wintergarten
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 18. Oktober 2022 | 18:05 Uhr