Paul oder der "Belmondo des Ostens" DEFA-Geschichte: Glatzeder erzählt "Die Legende von Paul und Paula" neu

15. Januar 2021, 04:00 Uhr

Manche nannten ihn "Belmondo des Ostens". Was für ein Quatsch, er ist vor allem "Paul". In der Verfilmung von Ulrich Plenzdorfs Roman "Die Legende von Paul und Paula" durch Heiner Carow spielte er die Rolle seines Lebens. Das Pop-Märchen, das in Hippie-Ästhetik erzählt, wie Liebe die starren Regeln einer Gesellschaft sprengt, ist bis heute Kult. Danach bekam Glatzeder einen DEFA-Exklusiv-Vertrag. Warum der ihn nicht in der DDR hielt – und wie er Paul, "Till Eulenspiegel" oder "Der Mann, der nach der Oma kam" wurde, erzählt Winfried Glatzeder im Gespräch mit Knut Elstermann, in der Podcast-Reihe zu 75 Jahren DEFA. Nicht verbittert, sondern mit viel Witz und Selbstironie.

Er hat Filme für die DEFA gemacht, die bleiben werden – und zwar für alle Zeiten: Winfried Glatzeder war "Der Mann, der nach der Oma kam", "Till Eulenspiegel" – und vor allem Paul im Kultfilm "Die Legende von Paul und Paula". Mit Blick auf das DEFA-Jubiläum meint der Schauspieler, 75 Jahre (so alt wurde er selbst 2020) sei ein schreckliches Alter: "Die Generation, die noch die Zeit erlebt hat, in der ich und andere Filme für die DEFA machten, die stirbt langsam weg. Wir müssen uns also beeilen, wenn wir über diesen für die Filmgeschichte doch interessanten Ausschnitt sprechen wollen."

Kein großes Kino

Für Glatzeder bedeuten der Film und das Kino in jungen Jahren vor allem ein bisschen Freiheit, ein Entkommen aus der Enge der Anderthalb-Zimmer-Wohnung, in der er bei seinen Großeltern aufwächst.

Glatzeder wird am 26. April 1945 im polnischen Sopot, damals Zoppot, bei Danzig geboren. Wenige Tage zuvor hat die Rote Armee die Stadt erobert. Seinen Vater soll Winfried nicht mehr kennen lernen: Er stirbt 1944 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Die jüdische Mutter überlebt. Doch weil sie sich kurz vor Kriegsende nicht an den Befehl zur Räumung der Stadt hält, wird sie in eine Psychiatrie eingewiesen, wo sie an Tuberkulose erkrankt. Sie kann sich nicht um ihren Sohn kümmern. Trotzdem erinnert sich Glatzeder an eine behütete Kindheit, eine zunächst privilegierte sogar. Mit den Großeltern gelangt er 1945 nach Berlin. Sein Großvater, Gustav Adolf Werner, wird Bezirksbürgermeister von Lichtenberg. Anderthalb Jahre habe man in der schönen Villa eines abgehauenen Fabrik-Besitzers wohnen dürfen. Bis der Großvater es abgelehnt habe, in die SED einzutreten. 1953 verliert er nicht nur alle Ämter.

Wir zogen dann in einer Anderthalb-Zimmer-Wohnung, die ich erst zum Studium verlassen habe. Da fühlte ich mich wirklich am untersten Rand der Gesellschaft, wie ein armer Schlucker mit immer zu kurzen Hosen bei meinen dann 1,92 Meter. Zugleich hatte ich den größten Dünkel, dass ich eigentlich nicht aus der Gosse komme, sondern ein verarmter Adliger war.

Winfried Glatzeder

Tatsächlich war der Großvater ein erfolgreicher und vermögender Bauunternehmer, wie Glatzeder Jahrzehnte später herausfindet. Als er 1956 stirbt, steht der Elfjährige mit seiner Großmutter alleine da.

Mit Rülpsen Geld verdienen und erotisch rüberkommen?

Zu dieser Zeit ist Berlin noch eine offene Stadt. Glatzeder erinnert sich an Diebestouren, um zur Weihnachtszeit Südfrüchte zu beschaffen. Ebenso eindrücklich sind ihm die Kino-Besuche in Berlin-Gesundbrunnen – für Ost-Mark! Dort sieht er beispielsweise fasziniert eine Einbrecher-Story namens "Das Loch". Einen Fernseher gibt es zu Hause nicht, dafür aber bei einem Freund, den er deswegen gern besucht. Doch nicht die Film- und Flimmerstunden bringen Glatzeder auf die Idee, Schauspieler zu werden, sondern die musisch begabte Großmutter, die eine "verrückte Nudel" gewesen sei. Vor allem deren Freundin, die Schauspielerin Anneliese Reppel:

Mit ihrer tiefen Stimme synchronisierte sie immer die Hexen in russischen Märchenfilmen. Sie sagte mal zu mir: 'Winnielein, ich verdiene hundert DDR-Mark, wenn ich einmal ins Mikrofon rülpse.' Das hat mich fasziniert, dass man Geld verdienen kann nur mit Körper-Äußerungen.

Winfried Glatzeder

Seine Sprache, seinen Körper einzusetzen, lernt Glatzeder erstmal in der Laienspielgruppe der Schule und im Zentralhaus der jungen Pioniere. Er stellt fest, dass die Mädchen ihn, "das schlottrige Gestell", plötzlich wahrnehmen, vielleicht sogar erotisch finden. Sein Berufswunsch nimmt konkrete Züge an. Und ein Rollenbild scheint geboren: Winfried Glatzeder als der schlaksige, etwas ungelenke junge Mann von nebenan, der sich in widrigen Umständen bewähren muss, der seinen Kopf aus der Schlinge zieht im letzten Augenblick und dem Schicksal auch mal ein Schnippchen schlägt:

Schlottrig, unbeholfen war ich, ja. Inzwischen bin ich äußerlich älter geworden und noch hässlicher. Aber ich habe handwerklich ein bisschen was geschnallt!

Winfried Glatzeder

Passion fürs Theater, Durchbruch bei der DEFA

Als Schauspiel-Student in Potsdam-Babelsberg kreisen die Träume damals nicht etwa um eine DEFA-Karriere, sondern nur um die Bühne. Beim Film verdient er sich wie seine Kommilitonen als Kleindarsteller schnell was dazu, etwa im "Schinken" über Karl Liebknecht oder im Indianerfilm "Spur des Falken": "Da gab es 75 Mark für sechs Takes Indianer-Geheul." Das Stipendium liegt bei monatlich 195 Ost-Mark. Ans "Hans Otto"-Theater nach Potsdam wollen damals fast alle, wie sich Glatzeder erinnert. Denn in Berlin da spielen nur die Superstars, Rolf Ludwig oder Fred Düren. 1969 diplomiert Glatzeder über Clownsfiguren bei Shakespeare. Zwei Jahre später reüssiert er nicht nur an der Berliner Volksbühne, sondern auch bei der DEFA. Seinen filmischen Durchbruch schafft er in der Rolle des jungen, Koventionen sprengenden Bohrarbeiters Christian in Siegfried Kühns "Zeit der Störche". Entdeckt hat ihn zuvor Kühns Frau Regina, die in Babelsberg Dozentin ist und Glatzeder vom Vorspiel kennt. Einflussreiche Filmkritikerinnen wie Renate Holland-Moritz oder Rosemarie Rehhahn sind nach der Premiere hingerissen von diesem "tollen Typen", der aussieht wie einer der französischen Stars der Nouvelle Vague.

Paul: Die Rolle seines Lebens

Ein Jahr später spielt Glatzeder an der Seite von Angelica Domröse in der "Legende von Paul und Paula" das Gegenteil von Christian, nämlich einen Bürokraten, der keinen Zugang zu seinen Gefühlen hat und sich nicht traut, Karriere oder Ehe für seine Liebe zu Paula aufzugeben. Befragt nach dem Schlüssel zum Erfolg seiner Rollen, nicht nur als Paul, macht Glatzeder klar, dass es um Handwerk geht, nicht nur um "Körper-Äußerungen". Sein profundes Studium sei die Grundlage für alles gewesen:

Die Widersprüche einer Figur zu finden und handwerklich gekonnt darzustellen: Das ist der Spaß eines Schauspielers.

Winfried Glatzeder

In allen Rollen gebe es Abgründe, die sich nutzbar machen ließen, sagt Glatzeder. Er entdeckt, dass ihm Paul als spießiger Bürokrat durchaus nah ist: "Denn ich war auch karrierebessesen."

Paul ist und bleibt die Rolle seines Lebens. In einem Film wie ein Pop-Märchen, das in Hippie-Ästhetik erzählt, wie Sinnlichkeit und Liebe die Regeln einer starren Gesellschaft sprengen. Dass er inzwischen ein Star ist, merkt Glatzeder daran, dass ihn Leute auf der Straße ansprechen oder die Müll-Fahrer "Paul" rufen. Äußerst populär hat ihn kurz zuvor schon die Komödie "Der Mann, der nach der Oma kam" gemacht, die über drei Millionen Zuschauer im Fernsehen verfolgt haben. Glatzeder spielt darin einen jungen Mann, der aus Forschungsgründen in eine Familie als Haushälter geht. Doch nicht die TV-Erfolge beeindrucken ihn, wie er rückblickend sagt. Stolz macht es ihn, zum Ensemble der Volksbühne zu gehören. Allerdings – als "Paul" kann er nun sogar eine Wohnung verlangen. Eine im Altbau mit Ofenheizung bekommt er dann auch zugeteilt.

Ich habe beim Lesen des "Paul und Paula"-Drehbuchs von Plenzdorf schon gerochen, dass es eine wunderbare, aggressive Lust ist, diesen Referenten des Außenhandelsministers als Doppelzüngler zu entblättern. Mir hat das Spaß gemacht, den Sozialismus auf diese Weise in Frage zu stellen und so eine Figur auf den Boden der Tatsachen zu bringen.

Winfried Glatzeder

Paula (Angelica Domröse) und Paul (Winfried Glatzeder)
Wie ein Pop-Märchen in Hippie-Ästhetik Bildrechte: rbb/PROGRESS Film-Verleih/Herbert Kroiss

Dabei ist es nach Drehende gar nicht ausgemacht, dass "Die Legende von Paul und Paula" in Regie von Heiner Carow ein Erfolg wird. Bei der Premiere 1972 herrscht im von Stasi-Leuten besetzten Saal eisiges Schweigen. Danach glauben alle im Team, der Film würde verboten. Doch "Die Legende von Paul und Paula" entwickelt sozusagen ein Eigenleben, sorgt auch international für Aufsehen und steht heute für die DEFA schlechthin. Darin mitgewirkt zu haben, macht Glatzeder nach eigenem Bekunden bis heute dankbar.

Ich bin jetzt 76. Dass ich überhaupt so lange arbeiten konnte, mit so guten Leuten und sogar jetzt bei 'Dark' in Netflix gelandet bin – das hängt alles auch damit zusammen, mit diesem grandios inszenierten und geschnittenen Film.

Winfried Glatzeder

Till als Aufmüpfiger aus der Arbeiterklasse

Mit einer historischen Figur landet Glatzeder 1975 den nächsten großen Erfolg: "Till Eulenspiegel" – in die Hauptrolle in Rainer Simons Film scheint er schon wegen seiner äußeren Erscheinung unglaublich gut zu passen. Das Drehbuch von Gerhard und Christa Wolf macht aus dem alten Stoff eine Satire auf die DDR-Gegenwart, Glatzeder gibt den Till als "Aufmüpfigen aus der Arbeiterklasse, der auch mal seinen Spaß haben will". Seine Darstellung wird als schauspielerische Meisterleistung gefeiert.

Ich bin eigentlich ein Spießer. Deswegen sehne ich mich vielleicht nach dem Umstürzler, also nach dem, der alle festgefahrenen Normen außer Kraft setzt.

Winfried Glatzeder

Desillusioniert von der DEFA als "Verhinderungsanstalt"

Dass sich die Normen nicht so einfach außer Kraft setzen lassen, muss Winfried Glatzeder dann trotz seines Ruhms feststellen. Zwar bekommt er 1978 bei der DEFA einen Exklusiv-Vertrag, mit der Garantie jedes Jahr einen Film zu drehen. Doch an diesem Privileg hängen Bedingungen. Etwa, Gewerkschafts- und Parteiversammlungen zu besuchen. Alles Zwänge, die ihm zuvor als Gast am Set, der eigentlich Theater spielt, vorher nicht weiter aufgefallen sind. Nachdem er sich mit Benno Besson überworfen und seinen Vertrag an der Volksbühne aufgelöst hat, lernt er die DEFA nun näher als "Verhinderungsanstalt" kennen, "in der die Regisseure mit den einzelnen Gruppenchefs und der Direktion oft Jahre lang ideologisch um Projekte kämpfen" müssen. Trotz der auskömmlichen Perspektive stellt Glatzeder 1980 einen Ausreiseantrag und verlässt das Land 1981, wohl wissend, dass er sich eine Laufbahn und ein Publikum erst wieder aufbauen muss.

Wieder aufgetaucht aus dem Dschungelcamp

An die Erfolge im Osten kann er nicht anknüpfen. 2014 sorgt der einstige Charakterdarsteller für Aufsehen, als er im RTL-Dschungelcamp auftritt.

Der Niedergang eines Schauspielers kann über die Jahrzehnte passieren. Meine Hoffnung, beim Dschungelcamp mitzumachen, war, dass die Produzenten wenigstens wissen, dass ich noch lebe.

Winfried Glatzeder

Das scheint irgendwie funktioniert zu haben: 2017 spielt Winfried Glatzeder in der Agentenkomödie "Kundschafter des Friedens" einen ehemaligen DDR-Spion. In der Netflix-Serie "Dark" übernimmt Glatzeder von 2019 bis 2020 in der zweiten und dritten Staffel die Rolle des alten Ulrich Nielsen.

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 20. November 2020 | 18:05 Uhr

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