Interview zum 90. Geburtstag DDR-Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase über die Kunst des guten Dialogs

13. März 2021, 04:00 Uhr

Der 1931 in Berlin geborene Wolfgang Kohlhaase ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten Drehbuchautoren der DDR. Aus seiner Feder stammen einige der wichtigsten DEFA-Filme, darunter "Berlin – Ecke Schönhauser", "Ich war neunzehn" und "Solo Sunny". Mit MDR KULTUR sprach der heute 90-Jährige über die DEFA, die Lust des Beginnens und die Kunst des guten Dialogs.

MDR KULTUR: Herr Kohlhaase, wenn Sie über dieses von der Corona-Pandemie geprägte Jahr ein Drehbuch schreiben würden, welches Genre würde es werden: ein Krimi, ein Lustspiel, eine Tragödie?

Wolfgang Kohlhaase: Wahrscheinlich nichts von allem. Ich hatte nicht den Gedanken, der es zwingend gemacht hätte, über dieses Jahr zu schreiben. Geschichten sammeln sich ja eigentlich auf lange Sicht an und man schreibt immer irgendwo ab, und zwar aus dem Leben. Und das ist eine Verabredung auf Dauer. In diesem Sinne könnte ich nicht sagen, dass ich überhaupt Ereignisse wahrgenommen habe – außer den großen oder den ganz persönlichen. Natürlich kann ich sagen, dass alles, was in meinem Leben anfing, damit zu tun hatte, dass der Krieg aufhörte. Und das machte eine andere Welt.

Man wusste nicht, was kommt, aber man begriff sehr schnell: Es war ein ungeheurer Einbruch von Neuigkeit in meine Welt, die so gewesen war, wie sie immer war – im Berliner Vorort. Und ich wusste nicht, was kommt – und das wusste niemand. Aber was man bemerkte, ahnte, sich auch wünschte war: Es hört nichts auf, es fängt was an. Und dann war ich immer der Jüngste, jetzt bin ich immer der Älteste. Irgendwo dazwischen ist viel passiert. Auf dem Wege von damals zu heute spielte eine Menge Zufall eine Rolle, aber auch meine Ambition, irgendetwas zu machen, Geschichten zu erzählen zum Beispiel. Und so bin ich irgendwie bei der DEFA angekommen.

Liest man Ihre Biografie mit Stationen bei der Jugendzeitschrift "Start", Ihrer Tätigkeit als Dramaturgie-Assistent bei der DEFA und Ihrem Schaffen als Drehbuchautor, stellt sich die Frage: Haben Sie etwas im klassischen Sinne gelernt?

Alles das, was da erwähnt wird, nach und nach. Eine richtige Lehre hat es nicht gegeben. Wir haben sozusagen nicht studiert und dadurch konnten wir eine Menge lernen, denn gelernt werden musste immer. Als ich zur DEFA kam, war es eine sehr merkwürdige, sich aus dem Lauf der Geschichte herschreibende Mischung aus Routiniers und Anfängern. Es gab die Leute, die das schon immer gemacht hatten. Sie hatten nicht nur in der Nazi-Zeit Filme gedreht, sie hatten auch für die Nazis Filme gedreht. Das war ja keine ganz unberührte Tätigkeit von allem anderen, was passierte. Und wiederum gab es dann Leute, die jung genug und alt genug waren – wie ich –, um das Ganze als Anfang zu erleben. Die DEFA konnte eigentlich in einem kulturellen, menschlichen und politischen Verständnis nur eine Anti-UFA sein, das war die Position der Nachkriegszeit. Aber sie hatte ja nicht von Vornherein eine andere Ästhetik. Dagegen suchte jeder seine Wege.

Und für jemanden wie mich und meinen ersten Partner in der Regie, Gerhard Klein, führte der Weg beinahe im Selbstlauf zu den Italienern. Dort suchten wir bei den Neorealisten ein Vorbild. Denn all diese Filme erzählten etwas, wovon ich dachte, das gibt es im Kino nicht: Alltag. Ich dachte, Film ist zu Pferde. Film ist uniformiert. Film ist bedeutend. Doch die Italiener erzählten Geschichten, die so waren, wie die Ecke, wo ich wohnte und davon ging eine große Ermutigung aus.

„Solo Sunny“ – MDR-Reihe „Lebensläufe“ schaut auf das Leben von Renate Krößner
Renate Krößner im Film "Solo Sunny" (1980), dessen Drehbuch aus Wolfgang Kohlhaases Feder stammt. Bildrechte: MDR/Hermann Beyer

Wir waren natürlich nicht nur auf der Suche nach stilistischen Möglichkeiten: auf der Straße zu drehen, alltägliches Licht und grobkörniges Material zu nehmen und damit eine andere Art von Wirklichkeit zu suchen. Wir waren dann auch sehr bald große Puristen. Wir wollten nicht nur machen, was wir machen wollten, sondern festigten unter der Hand unsere Überzeugung: 'Das kann man überhaupt nur so machen. Alles andere ist Quatsch.' Wir waren mit einem früh erworbenen Stolz ausgerüstet und wollten durchs Fenster. Ein bisschen später bemerkt man dann, dass die Türen immer noch da sind und man auch durch diese hindurchgehen kann. Ich würde sagen, die Anfangszeit war ein Zauber.

In Ihrem Buch "Um die Ecke in die Welt. Über Filme und Freunde" erzählen Sie, dass Sie als Dramaturgie-Assistent der DEFA unter anderem eingereichte Manuskripte prüfen mussten und vieles davon beiseite gelegt haben. Woher wussten Sie, so jung wie Sie waren, dass ein eingereichtes Manuskript nichts taugt?

Die Antwort ist kurz: Wir wussten es nicht. Wir dachten kritisch, wir dachten radikal – oder bildeten uns das zumindest ein. Und wir hatten genug Selbstvertrauen. Wir hatten das Gefühl, eine Bedeutung zu haben und außerdem machte es nicht viel Arbeit. Man las sich das Manuskript durch, fragte sein Gegenüber und schickte es dann mit ein paar ermunternden Worten wieder zurück.

Sie gelten als Meister des Dialoges: lakonisch, knapp – wann ist für Sie ein Dialog gut?

Ein Dialog ist gut, wenn er viel sagt, aber nicht alles ausspricht. Er ist gut, wenn er einen Doppelsinn hat. Er ist gut, wenn er nicht gezwungen ist, eine schwer verständliche Handlung mithilfe der Schauspieler nachzuerzählen, sondern wenn er Räume für die Schauspieler schafft. Er ist gut, wenn er mit seinem Hauptinstrument, der Sprache, Licht in eine Szene bringt. Überhaupt: Dialoge schreiben bedeutet, Arbeitsmöglichkeit für alle anderen zu schaffen. Das Buch ist ja nur der Anfang. 'Nur' ist aber ein großes Wort, denn der Anfang – sagen die Chinesen – ist der halbe Weg. Aber im Prinzip müssen günstige Situationen im Verlauf der Herstellung eines Buches erzählt werden. Und die Schauspieler müssen nicht nur etwas zu reden, sondern auch etwas zu machen haben. Ein Dialog muss knapp sein.

Man sagt Ihnen ein Elefantengedächtnis nach: Wann sind Momente für Sie filmreif?

Filmreif sind sie in dem Moment, in dem man sie bemerkt. Wie überhaupt alles, was versucht, Wirklichkeit zu erfassen und zu durchleuchten, hat das mit Erinnerung zu tun und ist immer eine Kombination von Finden und Erfinden. Es ist nie die pure Fotografie, man denkt es neu aus.

In "Sommer vorm Balkon" unterhalten sich zwei Frauen über die nicht vorübergehende Nacht. In eben so einer Sommernacht saß ich einmal. Es ist ein schönes, unabgenutztes Bild für eine dahingehende Nacht, die mit unscharfen Ecken vorüberzieht. Man merkt nicht, wie sie vergeht. Solche Momente hofft man zu erzeugen und dann merkt man es sich. Und wenn man Glück hat, dann fällt es einem wieder ein. Und überhaupt: Das Leben ist der Versuch die Vergesslickeit zu besiegen, indem man etwas aufschreibt. Erinnerung darf nicht Behauptung sein, sondern Entdeckung.

Wie erkennen Sie eine Geschichte, die es lohnt, aufgeschrieben zu werden?

Wenn man am Anfang den Schluss wissen möchte.

Das Interview führte Hans-Michael Marten für MDR KULTUR.

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | artour | 11. März 2021 | 22:10 Uhr

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