"Eine Reise durch den zornigen Osten""Wut": Fünf Gründe, warum diese Doku über den Osten so wichtig ist
In gleich drei ostdeutschen Bundesländern sind Landtagswahlen: in Sachsen und Thüringen wurde am 1. September 2024 gewählt, in Brandenburg wird erst noch. Viele Menschen machen sich Sorgen über das Ergebnis – lassen sich überhaupt noch stabile Regierungen bilden? Denn die Stimmung im Osten ist von einem Gefühl geprägt: Wut. Die Doku "Wut" in der ARD Mediathek geht eben jenem Gefühl nach und reist durch den "zornigen Osten". Fünf Gründe, warum sich der Film lohnt und was ihn so wichtig macht.
1. Zuhören statt reden
Der 45 Minuten lange Film macht etwas Besonderes und auch ein wenig Gewagtes: Er will mit Menschen ins Gespräch kommen. Matthias Schmidt reist durch Sachsen, Thüringen und Brandenburg und fragt die Menschen direkt, was sie wütend macht. Dabei sucht der Filmemacher nicht die Debatte, sondern er will zuhören. Bewusst sagt er, dass er zu Ausführungen nichts ergänzen will. Auch große Analysen zu komplizierten Gesprächsfeldern vermeidet der Film: Es geht nicht darum, die Wichtigkeit von Minderheitenrechten zu erörtern oder die Bedeutungsunterschiede des Wortes Frieden herauszuarbeiten. Dadurch wird der Film nicht überfrachtet, sodass das Filmpublikum selbst besser zuhören und die Zwischentöne der Wut erkennen kann. So sorgt der Film für ein besseres Verstehen.
2. Der etwas andere Roadmovie
Matthias Schmidt ruft nicht einfach beliebige Leute an oder redet mit Menschen vor seiner Haustür. Er begibt sich auf eine Reise. Er besucht Demos in großen und kleinen Städten, besucht Bauernhöfe und Villen in kleinen Ortschaften. Die Kamera fängt immer wieder das Reisen selbst ein, wie Schmidt in der langsamen Bahn sitzt oder im Überlandbus ein Ticket kauft. Das zeigt die Doku jedoch nicht als beschwerlichen Weg – immerhin ist die Anbindung auf dem Land ständig ein Streitthema – sondern als ein entschleunigtes Unterwegssein. Die gute Botschaft ist: Man kommt mit öffentlichen Verkehrsmitteln sehr weit und kann während der Fahrt die Landschaft genießen.
3. Vielfalt der Wut
Zugegeben: Die Doku ist nicht ungeschminkt. Matthias Schmidt spricht nicht mit Scharfmachern und Hasspredigern. Es werden zwar auch Demo-Beiträge gezeigt, aber niemand schreit hier unkontrolliert herum. Es ist kalte Wut, keine heiße; reflektierend und nicht zerstörerisch. So gelingt es, dass sehr verschiedene Menschen in ihrer Wut nebeneinander gezeigt werden können. Es geht eben nicht um die sprichwörtlichen "Wutbürger", die scheinbar alles brennen sehen wollen, die den vermeintlichen "Gutmenschen" gegenüberstehen, die doch alles befürworten: Der Friseur ist leicht überfordert, weil inzwischen selbst die Frage nach dem Urlaub politisch ist (Wer kann sich das denn noch leisten?). Da regt sich einer auf, dass das Geld unfair verteilt wird – aber nicht mit Stammtisch-Parolen, sondern als Bürgermeister. Da ist eine junge Frau wütend, weil der Klimawandel nicht bekämpft wird. Da ist ein Unternehmer, der die Notwendigkeit von Energiewende zwar erkennt, aber keine Rohstoffe nutzen will, die woanders für Umweltschäden sorgen. Und eine eher linke Autorin ist wütend, dass das System überhaupt so viel Wut hat wachsen lassen. Es gibt nicht nur die eine Wut und viele Formen der Wut haben Ursache und Berechtigung.
4. Mitten in der Debatte
Obwohl die Doku große Diskussionen über umstrittene Themen vermeidet, bleibt sie nicht ohne Analyse – auch die Gesprächspartnerinnen und -partner selbst viel analysieren. Es geht aber immer auch um die Frage: Warum gerade im Osten? Warum ist die Wut hier so groß, so drängend. Antworten darauf gibt unter anderem Steffen Mau, über dessen neues Buch "Ungleich vereint" gerade viel gesprochen wird. Er konstatiert beispielsweise, dass sich Ost und West nie ganz angleichen werden (regionale Unterschiede seien ja auch nichts Schlimmes) und dass ein Grund für die Demokratie-Skepsis auch darin läge, dass die Einführung dieser neuen Staatsform im Westen mit einem wirtschaftlichen Aufschwung und im Osten mit einem wirtschaftlichen Abschwung verbunden war – also negativ behaftet ist. Damit passt diese Doku in die größere Debatte über Unterschiede zwischen Ost und West, die pünktlich zum 35 Jahre nach dem Fall der Mauer aktuell ganz neu geführt wird – auch mit den Stimmen von Dirk Oschmann, Ines Geipel oder Ilko-Sascha Kowalczuk.
5. Motivation für mehr
Passend zur Doku ist in dem Podcast "Große Fragen in zehn Minuten von MDR WISSEN" eine Folge zu diesem Gefühl heraus. Dabei ist eine Erkenntnis: Wut hat auch eine schöpferische Kraft. Wer wütend ist, nimmt nicht nur hin, sondern will auch verändern. Das zeigt auch die Doku fast schon nebenbei: Im Dorf ist nichts los? Dann baue ich doch einfach selbst ein Kulturhaus auf. Und dass der Bürgermeister von Dahme selbst Montagsdemos organisiert, wirkt zwar komisch, aber auch wie eine sehr kreative Form von Dialog mit der Bevölkerung – die viel zu selten Einblick in die Mühlen der Politik nimmt oder erhält. Wir müssen die Wut also nicht bekämpfen, sondern sie besser verstehen. Diese Doku könnte dabei helfen.