Netzwerk "Generationstreffen" in Leipzig: Wohin der "junge Osten" strebt
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Seit Jahrzehnten wird darüber gestritten, warum es nicht mehr Menschen, die in Ostdeutschland geboren wurden, in Führungspostionen schaffen. Als Erklärung wurden entweder die zurückhaltenden Charaktereigenschaften, mangelnde Infrastruktur und schlicht Benachteiligung angeführt. Bei einem Netzwerktreffen in Leipzig mit dem Motto "Der junge Osten übernimmt" haben nun Wendekinder darüber diskutiert, wie sie Deutschland mitgestalten können.

Alle sind per Du und reden sich beim Vornamen an – wie es unter jungen Menschen eben üblich ist. Doch so jung ist dieser "junge Osten" längst nicht mehr: Die rund 60 Männer und Frauen aus Ost und West, die sich unter freiem Himmel auf der Tribüne der Leipziger Pferde-Rennbahn treffen, sind Wende-Kinder. Sie alle sind zwischen 30 und 45 Jahre alt und Mitglieder des Netzwerkes "Dritte Generation Ost".
Inzwischen haben diese Netzwerker auch schon längst "übernommen": mittelständische Unternehmen, Lehrstühle an Universitäten, leitende Positionen in Ministerien, in Redaktionen, im Management des Kultur-Betriebes. Und worum geht es dieser Gruppe bei ihrem inzwischen sechsten Jahrestreffen? "Es geht darum, mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln", beschreibt der Leipziger Journalist Andreas die Botschaft dieser Veranstaltung. "Wir haben etwas geschafft – gerade etwa in den vergangenen 30 Jahren! Und was wir erreicht haben, könnt Ihr auch erreichen! Es gibt niemanden, der einem was schenkt. Man muss sich hinstellen und sagen: Das will ich auch!"
Gesine Grande – eine Pionierin aus Leipzig
Eingeladen haben die Netzwerker zu ihrem Treffen diesmal unter anderen eine Ost-Deutsche, die etwas geradezu Einmaliges erreicht hat: Gesine Grande wurde in Leipzig geboren und hat 2020 die Leitung der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg übernommen – obwohl sie eine Frau ist und obwohl sie aus dem Osten stammt.
Top-Jobs in Deutschland sollten noch öfter von ostdeutschen Kandidaten aus dem Osten besetzt werden, meint Grande. Gerade wenn sie für den "jungen Osten" stünden. Denn diese Wende-Kinder verfügen über unabdingbare Erfahrungen: umbruch-trainiert, krisen-erprobt, anpassungsfähig, pragmatisch. "Herkunft spielt heutzutage sehr wohl eine Rolle", meint die studierte Psychologin. "Wir reden über Migration. Wir reden über Unfairness und Chancen für Kinder aus bildungsfernen Haushalten. Wir reden über Diskrepanzen zwischen Stadt und Land. Aber wir reden so gut wie nie über Fragen der ost-deutschen Herkunft! Man könnte sagen, das ist ein gutes Zeichen, weil es vielleicht keine Rolle mehr spielt. Aber vielleicht ist es auch verdächtig, dass wir nie darüber reden, dass Ost-Deutsche in Führungspositionen bundesweit – ob in Wirtschaft, in Kultur, in Wissenschaft und Hochschulen – ausgesprochen unterrepräsentiert sind."
Viele Wege nach oben stünden derzeit offen, sagt Grande. Doch wer sie nehmen wolle, müsse immer noch manche Hürde überwinden. Es brauche Haltung, langen Atem und Durchsetzungsvermögen. Vor allem dürfe er oder sie Niederlagen nicht als Kränkung missverstehen.
Ostdeutschland als Vorbild
Doch: Nach oben kommen – wozu eigentlich? Es sollte um mehr gehen als um Wohlstand und Ansehen, gibt Verwaltungsangestellte Annekatrin aus Magdeburg zu verstehen: "Zu übernehmen gibt es natürlich Mitgestaltungs-Möglichkeiten! Es geht darum, Gesellschaft, Leben und Kultur mitzugestalten. Als im Osten sozialisierter Mensch bringt man Werte und Einstellungen mit, die es zu erzählen gilt."
Übernehmen und Mitgestalten: Auf welchen Feldern etwa? Darüber diskutieren die ostdeutschen Netzwerker nun den größten Teil des Tages in Arbeitsgruppen. In einer geht es zum Beispiel um das Thema Transformation. "Ich bin mit mehreren Initiativen in Magdeburg unterwegs, um die Arbeitswelt zu verändern. Im Fokus immer: eine Arbeit, die wir wirklich wollen", sagt Janine, die in der sachsen-anhaltischen Hauptstadt eine PR-Agentur betreibt und gerade eine neue Genossenschaft gründet.
Sylvia ist Chefin eines Vereins in Brandenburg. Sein Name ist Programm: Neuland. "Wir kennen diesen Narrativ vom Niedergang, vom demografischen Wandel: Die Jungen verlassen das Land und streben in die Städte", erklärt sie ihren Antrieb. "Wir wollen daran mitarbeiten, dass sich dieser Trend möglichst wieder umkehrt, etwa in dem sich ländliche Gebiete neu erfinden. Dabei setzen wir ganz stark auf die Mittel der Digitalisierung." Andere Themen sind: politische Kommunikation, Generationen-Dialog, Gewerkschaften, Zukunft der Landwirtschaft, Aufgaben der nächsten Bundesregierung. Das Diskussions-Prinzip: Zustand beschreiben, Problem analysieren, Lösungen anvisieren.
Der Osten: mehr gefragt denn je
Dabei gelangen sie auch zu kühnen Vorschlägen: Was, wenn man daran arbeite, den Osten Deutschlands zur ersten CO2-neutralen Region auszubauen – alle Attribute der technischen Moderne inbegriffen? Dieser Gedanke spiegelt beispielhaft, worum es hier eigentlich geht: um das Erproben von Ideen und Argumenten. Um einen starken Auftritt in gesellschaftlichen Debatten, in denen der Osten in neuem Licht erscheint: kreativ, innovativ, modern-pragmatisch. Als ein Labor für das gesamte Land.
"Mich hat dieser Tag inspiriert", bilanziert Katrin. Die Ministerial-Beamtin aus Berlin hat den Tag moderiert. "Viele denken: mehr als 30 Jahre Mauerfall und wir reden immer noch über die Kategorien Ost und West. Aber dieser Tag hat mir gezeigt, dass die Kategorie 'Ost' noch nicht vergangen ist. Das fängt jetzt erst so richtig an!"
"Das schöne an diesem Tag war, dass er zeigte, wie vielfältig die Akteure sind, Biografien im Osten und im Westen sind, wie sie miteinander streiten können und trotzdem Gemeinsamkeiten finden auf der Suche nach Perspektiven. Der Osten ist bunter, als er wahrgenommen wird!" Wie liest sich das große Motto "Der junge Osten übernimmt!" am Ende dieses Tages? Als unbescheidener Anspruch: ja. Als ziemlich hohes Ziel – auch das. Denkbar aber auch: schlichtweg als Erfordernis!
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 06. September 2021 | 07:10 Uhr