"Dann fühle ich mich schuldig"Neue Heimat in Sachsen: Gedanken einer jungen Ukrainerin
Karina Melnyk hat in London Mode-Design studiert. Als die Corona-Pandemie die Welt im Griff hatte, zog die gebürtige Ukrainerin zu ihrer Familie nach Odessa zurück. Dann begann am 24. Februar 2022 der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mit ersten Bomben auch auf die Stadt am Schwarzen Meer. Über Nacht ergriff sie mit Mutter und Bruder die Flucht über Rumänien. Inzwischen lebt die junge Frau in Markkleeberg bei Leipzig, überlegt, Grafikdesign zu lernen – und fragt sich, ob sie jetzt glücklich sein darf.
Am 24. Februar 2022 wird Karina Melnyk morgens von einem lauten Donnern aus dem Schlaf gerissen: Die ersten Bomben fallen auf Odessa. "Ich habe nichts gefühlt. Ich konnte nicht realisieren, dass das tatsächlich passiert", erinnert sich die 22-Jährige. Kurz zuvor habe sie noch ein Buch über den Zweiten Weltkrieg gelesen, vom Leben der Menschen und ihren Gefühlen, als er über sie hereinbrach: "Ich dachte, was wäre, wenn wir jetzt Krieg hätten. Aber wer konnte wissen, dass ich genau das im Alter von 22 Jahren erleben würde: Dass das Land, in dem du geboren wurdest, nicht mehr sicher ist und du alles verlierst?"
Bomben auf Odessa
Karina Melnyk lebt zu dem Zeitpunkt mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder in einer gemeinsamen Wohnung in Odessa. Das Verhältnis zum Vater ist zerrüttet. Die Mutter scheint ohnmächtig und überfordert: Beim ersten Bombenangriff auf die Stadt schlägt sie vor, das Kinderzimmer zu tapezieren. Karina reißt die Verantwortung für die Familie an sich und fängt an, die Koffer zu packen. Sie lassen alles so zurück, wie es ist. Denn es gibt keine Zeit zu verlieren:
Du schließt einfach ab und weißt nicht, wann du zurückkommst. Weil es nur darum geht, deine Familie zu retten.
Karina Melnyk
Ukrainer*innen im sächsischen Exil
Flucht aus der Ukraine
Und es geht wirklich um jede Sekunde: Als die Familie aus Odessa rausfährt, lesen sie in den Nachrichten, dass eine Bombe genau den Ort getroffen hat, an dem sie sich 20 Minuten zuvor noch befanden: "Wenn wir nicht gefahren wären, wären wir genau da gewesen", erklärt Karina. "Oder eigentlich wären wir nicht mehr da, wenn uns die Bombe getroffen hätte."
Wir sind tagsüber gefahren und haben nachts geweint.
Karina Melnyk
Es wird eine lange, harte Reise. "Wir sind tagsüber gefahren und haben nachts geweint", erzählt Karina. Die ersten zwei Wochen – so lange dauert die Fahrt – weiß die Familie noch nicht, wohin es geht. Sie sind wie im Blindflug unterwegs. "Zum Glück hatten wir Internet und Telefone." Vor allem in der Zeit des Wartens an der Grenze. Zwischen der Ukraine und Rumänien sitzt Familie Melnyk 30 Stunden in klirrender Kälte im Auto fest und ist zugleich "dankbar, denn dieser Ort ist sicher, keine Bombe wird dich treffen".
Am Tag, als Karina mit ihrer Familie Deutschland erreicht, sagt sie zu ihrer Mutter: "Ok, Mama. Wir sind in einem Land, dessen Sprache wir nicht können, über das wir nichts wissen. Das macht keinen Sinn, dass wir in Deutschland gelandet sind." Heute lacht sie, wenn sie das erzählt.
Ukraine-Krieg und Kultur
Angekommen in Markkleeberg bei Leipzig
Zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder ist Karina Melnyk bei einer Arztfamilie in Markleeberg, südlich von Leipzig untergekommen. Es sei eigenartig, aber es fühle sich so an, als würden sie sich schon ewig kennen, meint Karina: "Ich habe diese wunderbare Chance, konnte mein Leben retten, bin an einem so wundervollen Ort, mit fantastischen Menschen, die mir helfen. Bei so vielen Zeichen: Diese Chance darf ich nicht vergeuden, die muss ich nutzen und anfangen zu leben."
Karina hat Modedesign studiert und ihren Bachelor-Abschluss in London gemacht. Dann folgten zwei Jahre im Corona-Lockdown in der mütterlichen Wohnung in Odessa. Nun will Karina Deutsch lernen und sich zur Grafikdesignerin weiterbilden, zunächst über ein Praktikum. Doch manchmal plagt sie das schlechte Gewissen: "Dann fühle ich mich schuldig, dass mein Leben sich geändert hat, dass ich glücklicher bin als zuvor. Es geht darum: Versuche, dein Leben fortzuführen." Und sie betont:
Sein Leben fortzuführen heißt nicht, dass man ignoriert und vergisst, was im eigenen Land passiert.
Karina Melnyk
Die Ukraine bleibe ihre Heimat, sagt Karina, die sich in Markleeberg von Beginn an wohl fühlt. "Es ist nicht so, dass ich nicht plane, in die Ukraine zurückzugehen. Aber nun fühlt sich dieser Ort wie mein Zuhause an. Ich habe dafür keine Erklärung, aber ich merke, dass ich da bin, wo ich sein sollte."
Redaktion: Lydia Jakobi, Valentina Prljic, Thilo Sauer
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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 27. August 2022 | 09:05 Uhr