Von Jan Philipp Reemtsma Biografie: Wie Wieland in Thüringen die moderne deutsche Literatur erfand
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Lange stand er im Schatten von Goethe und Schiller: Nun entdeckt ein neues Buch Christoph Martin Wieland als einen der wichtigsten Schriftsteller des 18. Jahrhunderts und Wegbereiter der Weimarer Klassik wieder. Jan Philipp Reemtsma leistet mit der ersten Biografie seit 70 Jahren eine literaturhistorische Großtat und verfolgt Wielands Spuren in Thüringen, wo er die Weichen für die moderne deutsche Literatur stellte. In hinreißender Art verdichtet Reemtsa dabei sein breites Wissen zu einem imposanten Buch, lobt unser Kritiker.

"Etherisch" und "selig", "harmonisch" und "festlich", "Liebeswut", "Steckenpferd" und "Milchmädchen", "Weltall" und "Weltliteratur" – allesamt Worte, die uns leicht über die Lippen gehen und so gewöhnlich erscheinen, als seien sie immer schon da gewesen. Waren sie natürlich nicht. Zu verdanken sind diese und etliche andere Neologismen einem Aufklärer und Sprachgenie: Christoph Martin Wieland arbeitete, schreibt Jan Philipp Reemtsma, konsequent an der Modernisierung der deutschen Sprache. Vieles musste er erfinden, um Shakespeare gerecht zu werden – dessen Stücke übersetzte er als erster ins Deutsche. Eine nicht zu überschätzende Pioniertat.
Wieland als Wegbereiter der Weimarer Klassik
Wieland war aber nicht nur ein Sprachinnovator. Er hat außerdem mit viel Geschick das geschaffen, was wir heute "Weimarer Klassik" nennen – zu Unrecht denken wir dabei nur noch an die beiden Säulenheiligen Goethe und Schiller. Wieland war als erster da, und er bereitete buchstäblich den Boden für das, was noch kommen sollte. Nicht zuletzt hat er neue literarische Formen und Erzählweisen entwickelt. Der Germanist und Literaturmäzen Jan Philipp Reemtsma würdigt "Christoph Martin Wieland" nun mit einer großen Biografie, deren Untertitel die Wirkmacht des Biberacher Pfarrerssohns prononciert herausstellt: "Die Erfindung der modernen deutschen Literatur".
Groß ist nicht nur der Umfang dieses Buches, gewaltig nicht nur der Inhalt, den es abzudecken gilt. Imposant ist vor allem die dramaturgische und stilistische Meisterschaft Reemtsmas, seine Fähigkeit, profundes Wissen auf geradezu hinreißende, kluge, manchmal ironische, manchmal schön parteiische Weise zu verdichten. Das klingt dann, wenn er etwa den jungen Wieland beschreibt, folgendermaßen:
Auszug aus dem Buch "Er war nicht weltgewandt und sicherlich nicht routiniert darin, mit Gleichaltrigen umzugehen. Er neigte wohl zu einer - zuweilen prätendierten - Ernsthaftigkeit, vielleicht Gravität (Geßner karikiert das ja). Er debattierte, besser vielleicht: dozierte gern über literarische und philosophische Themen, liebte es wohl auch, zu rühren mit moralischem und religiösem Tremolo. Das wird er zwar radikal ablegen, aber in jenen Tagen war es noch so, und damit kam er an, eben bei jenen älteren Damen, denen er den Hahn-im-Korb gab."
Wielands Stationen in Thüringen – Erfurt, Weimar, Oßmannstedt
Weltgewandt war Wieland wirklich nicht, und bei gesetzteren Damen kam er zunächst besser an als bei den jüngeren. 1733 wurde der Dichter in einem Dorf bei Biberach geboren, in der tiefsten schwäbischen Provinz. Nachdem er sich als Hauslehrer in Zürich und Bern verdingt hatte, kehrte er nach Biberach zurück und wirkte als Kanzleiverwalter. Was er da alles in einem unsäglichen Stil schreiben musste – Reemtsma liefert Kostproben! Kurze Zeit war er dann sogar Professor für Philosophie in Erfurt, wurde aber von Anna Amalia nach Weimar abgeworben, um den künftigen Herzog Carl August den letzten Schliff zu geben und auf seine Regierungsgeschäfte vorzubereiten.
Die glücklichsten Jahre - es waren doch nur sechs an der Zahl - verbrachte er um 1800 herum auf einem Landgut im nahe gelegenen Oßmannstedt. So klein der Radius, so immens der innere Kosmos. Wieland, glücklich verheiratet mit einer Augsburger Kaufmannstochter und ein hingebungsvoller Vater, schuf nicht nur ein umfangreiches, sondern vor allem vielgestaltiges Werk. Das Problem sei, schreibt Reemtsma, dass man sich für sehr vieles interessieren müsse, wenn man Wieland genießen wolle.
Neues Buch über Wieland und die moderne deutsche Literatur
Der Biograph bringt dieses Interesse mit, und auch die Fähigkeit zum Genuss. Er versteht es, diesen mit uns zu teilen: Nicht nur die Beschreibung der Lebensstationen samt aller gesellschaftlicher Hintergründe, die Schilderungen des Aufstiegs Wielands zum höchst angesehenen Autor oder seines Einflusses auf das kulturelle Leben der Zeit, man denke an die von ihm begründete Zeitschrift "Der teutsche Merkur", sind von fesselnder Lebendigkeit. Auch die uns heute oftmals schwer zugänglichen, mit antiken Referenzen spielenden Versepen, Romane, literarischen und politischen Schriften - es sind Tausende von Seiten - bringt uns Reemtsma kunstvoll und mit leichter Hand näher.
Groß ist nicht nur der Umfang dieses Buches, gewaltig nicht nur der Inhalt, den es abzudecken gilt. Imposant ist vor allem die dramaturgische und stilistische Meisterschaft Reemtsmas, seine Fähigkeit, profundes Wissen auf geradezu hinreißende, kluge, manchmal ironische, manchmal schön parteiische Weise zu verdichten.
Wieland erlebt aber nicht nur den Höhepunkt seines Ruhms (in fortgeschrittenem Alter schreibt er seinen vielleicht bedeutendsten Roman "Aristipp und einige seiner Zeitgenossen"). Er selbst bekommt noch mit, wie eine neue Generation sein Denkmal zum Einsturz bringen will und irgendwie auch bringt. Als die jungen Schlegels die literarische Szene aufmischen, machen sie vor allem Wieland zur Zielscheibe ihres Spotts. Verdient hat er das nicht, höchstens dadurch, dass er eine Institution geworden war – Institutionen müssen ja bekanntlich von genialischen Bilderstürmern gestürzt werden. Das alles blieb nicht ohne Folgen.
Reemtsma schreibt erste Wieland-Biografie seit 70 Jahren
Wielands Leistungen, das, was Reemtsma die Erfindung der modernen deutschen Literatur nennt, wurden beiseite gewischt. Sein Ansehen verblasste, das 19. Jahrhundert wusste aus vielerlei Gründen nichts mehr mit ihm anzufangen, und das blieb auch im 20. Jahrhundert lange so. Einer der wenigen, der ihn wieder auf ein Podest hob und pries, war Arno Schmidt. Aber auch er musste bekennen: "Ein berühmter Name, gewiß, aber mir nur eine Schattengestalt – die Literaturgeschichte hat ihn längst so endgültig abgetan".
So endgültig dann aber vielleicht doch nicht. Reemtsmas Biografie des 1813 gestorbenen Wieland - die erste seit 70 Jahren - ist eine literaturhistorische Großtat. Vermutlich wird sie nicht zu einem Wieland-Boom führen, man darf die Wirkung toller Bücher leider nicht überschätzen. Aber eine Ehrenrettung ist sie mindestens, und sie wird mit ziemlicher Sicherheit für eine geraume Zeit ein frisches Wieland-Bild prägen.
Angaben zum Buch und Termine
Jan Philipp Reemtsma: "Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur"
In Zusammenarbeit mit Fanny Esterházy
704 Seiten, 38 Euro
C.H. Beck Verlag
ISBN: 978-3-406-80070-2
Termine:
28. April, 20 Uhr: Lesung im Rahmen der Leipziger Buchmesse in der Bibliotheca Albertina (Lesesaal West)
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 22. März 2023 | 07:10 Uhr