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Neues Buch aus Dresden: Jens Wonnebergers neuer Erzählungsband "Weltliteratur" ist im Verlag Müry Salzmann erschienen. Bildrechte: Verlag Müry Salzmann

"Weltliteratur"Wie der Dresdner Autor Jens Wonneberger die ganze Welt in einem Buch verpackt

von Ulrich Rüdenauer, MDR KULTUR

16. März 2023, 04:00 Uhr

Der Dresdner Autor Jens Wonneberger versammelt in seinem neuem Buch "Weltliteratur" 21 Erzählungen. Die kurzen Prosastücke begleiten ihre melancholischen Helden in der Provinz und sind oft autobiografisch – etwa, wenn es um die Kindheit in der DDR geht. Sie sind eine Mischung aus alltäglichen Beobachtungen und Erinnerungen an die großen und kleinen Dramen des Lebens. Der Band eignet sich bestens als Einstieg in das umfassende Werk des bislang viel zu wenig beachteten Autors, findet unser Kritiker.

Auf Jens Wonneberger ist Verlass: Etwa alle zwei Jahre erscheint ein schmaler Roman von ihm und wir dürfen dann seine manchmal kauzigen, immer leicht melancholischen, an ihrer Geschichte oder der Geschichte überhaupt laborierenden Helden kennenlernen. Wonneberger, der 1960 im sächsischen Großröhrsdorf Bauingenieurswesen studierte und auch als Journalist arbeitete, lebt seit vielen Jahren in Dresden – die Stadt verdankt ihm einige stadtgeschichtliche Schreiberkundungen.

Autor war bereits für den Deutschen Buchpreis nominiert

Oft ist es die Provinz, die in seinen Büchern die Kulisse für die kleinen und größeren Dramen seiner Figuren abgibt. Wie weitsichtig diese Geschichten aber sind, obwohl sie doch an abgelegenen Orten von randständigen Menschen durchlebt werden, das ist immer wieder faszinierend.

Wer diesen bislang viel zu wenig beachteten Autor noch nicht gelesen hat – mit seinem Roman "Mission Pflaumenbaum" stand er 2020 immerhin auf der Longlist des Deutschen Buchpreises –, der könnte mit seinem neuen Buch einen wunderbaren Einstieg finden: "Weltliteratur" heißt dieser Erzählungsband mit 21 Texten, die sich in einem Spannungsfeld von Erlebtem und Erfundenem bewegen.

Der Dresdner Autor stand mit seinem Roman "Mission Pflaumenbaum" 2020 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Bildrechte: Verlag Müry Salzmann

Erinnerungen an die Kindheit in der DDR

Eine der Geschichten dringt in die dunklen Kammern des Vergangenen und Verdrängten vor: "dreizehn stufen in den himmel" heißt sie. Dreizehn Treppenstufen führen auf den entrümpelten Dachboden des Elternhauses. Steigt der Erzähler sie hinauf, ist er augenblicklich zurückversetzt in seine Kindheitstage, und der in die innere Vergangenheit gerichtete Blick rekonstruiert detailliert, was in den verwinkelten Nischen verborgen lag: eine Silberhochzeitskrone, der Hitlerjugenddolch mit herausgebrochenem Hakenkreuz, eine verstaubte Marx-Engels-Gesamtausgabe – Requisiten des Lebens und der deutschen Geschichte.

Autobiografische Bezüge im Werk des Dresdner Autors

Auch die Gerüche sind präsent, der ätzende Gestank der Flüssigkeit, die der Vater an die Balken schmierte, um der Holzwürmer Herr zu werden. "(…) die Balken hielten", heißt es dann im letzten Absatz, "auch der rostige Haken hielt, hielt noch den Vater, als der mit einem Strick um den Hals sein Leben an ihn hängte. Steif wie die Laken in eisigen Wintern hing er dort, eine Träne war auf dem Weg vom Auge zum Mundwinkel eingetrocknet." Dieser Satz ist ein Schock, der im Text angelegt ist und auf den doch nichts vorbereitet.

Autor Jens Wonneberger wurde 1960 im sächsischen Großröhrsdorf geboren und lebt heute in Dresden. Bildrechte: Max Zerrahn

Auf wenigen Seiten, sparsam instrumentiert und verdichtet, greift Jens Wonneberger das Thema seines autobiografisch grundierten Romans "Himmelreich" hier wieder auf. Darin hatte sich der Vater des Erzählers einst auf dem Dachboden eine heile Modelleisenbahnwelt im Maßstab 1:120 gebaut. Aber diese Miniatur-Idylle vermochte nur wenig gegen die unberechenbare, kümmerliche Wirklichkeit auszurichten. Seine kleine Flucht endete in einer großen und endgültigen: Er erhängte sich auf dem Speicher. Das Alltägliche und Triviale liegt nur eine Handbreit neben dem Absurden und Unvorstellbaren.

Auch in Wonnebergers 'kleiner Prosa' rückt das Banale, Staubige und Unbeachtete in flackerndes Licht, bekommt dabei immer eine existenzielle Dimension. Selbst an den unscheinbarsten Orten eröffnet sich eine ganze Welt – auf mal lakonische, mal komische Weise.

Ulrich Rüdenauer, MDR KULTUR-Literaturkritiker

Auch in Wonnebergers "kleiner Prosa" rückt das Banale, Staubige und Unbeachtete in flackerndes Licht, bekommt dabei immer eine existenzielle Dimension. Selbst an den unscheinbarsten Orten eröffnet sich eine ganze Welt – auf mal lakonische, mal komische Weise. Ob es Kindheitsspiele und -träume sind, Erfahrungen der Ausgrenzung aufgrund einer fremden Herkunft oder einer undeutbaren Traurigkeit; ob von einem Arbeiter berichtet wird, der einem kleinen Jungen gehörige Angst einjagt; oder vom ereignislosen, gleichmütigen Leben der beiden Junggesellen Siegfried und Karl, beide Experten auf dem Gebiet des Allein- und Kauzigseins.

Erzählung aus Sicht eines Soldaten der NVA

Meisterhaft ausbuchstabiert ist die Erinnerung an "18 monate einer dienstzeit" des einfachen Soldaten Kransteiner in der Volksarmee der DDR. Es zeigt sich darin die Ödnis des Kasernendrills, die plötzlich abrufbare Panik, die Demütigung, als Individuum zu einer marschierenden Erkennungsmarke degradiert zu werden. Die Erzählung aber subjektiviert die Kollektiverfahrung zugleich, sie dreht den Spieß um, die Sprache verwandelt das Absurde zurück ins Menschliche – wenn etwa "Bügelfalten die ganze Nacht die Stellung halten" oder ein Unteroffiziers-Gehilfe die Nachtruhe in den Flur hineinschreit und dabei "vor seiner eigenen Stimme" erschrickt.

Jens Wonneberger überzeugt mit neuem Buch

Wonnebergers "Weltliteratur" heißt so, weil seine Texte welthaltig sind. Viele der geschilderten Erlebnisse dürften sich mit solchen des Autors decken. Die Arbeitsvermeidungsstrategien im Büro eines Baukombinats könnte der studierte Bauingenieur Wonneberger ebenso hautnah erfahren haben wie die Begegnungen mit skurrilen Kunden im Antiquariat, in dem er früher tatsächlich einmal jobbte.

In der Titelgeschichte "Weltliteratur" wird auf anschauliche, prosaische Weise der Umschlag von Leidenschaft in Lustbefriedigung, von Kunst in Konsum, von Begehren in Begierde kenntlich. Es ist auch eine Geschichte über die Wende oder besser: über den Lauf der Zeit. Manchmal genügen einfache Bilder, um auch von großen Umbrüchen zu erzählen. Allerdings braucht es dafür die präzise Beobachtungs- und Beschreibungsgabe von Jens Wonneberger.

Angaben zum BuchJens Wonneberger: "Weltliteratur. Kleine Prosa"
Verlag Müry Salzmann, Salzburg 2023
ISBN: 978-3-99014-240-0
158 Seiten
22 Euro

Redaktionelle Bearbeitung: Lilly Günthner

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 15. März 2023 | 18:05 Uhr