DebatteUwe Tellkamp und Lukas Rietzschel streiten über Meinungsfreiheit: Hall und Schall in Dresdner Frauenkirche
Im Streit über Corona-Regeln und Impfen, über Flucht und Migration, zuletzt über Waffen für die Ukraine geht es mitunter erbarmungslos zu. "Wie viele Meinungen verträgt die Wirklichkeit?", fragten sich am Donnerstag in Dresden die Schriftsteller Lukas Rietzschel und Uwe Tellkamp in einem Meinungsstreit über die Meinungsfreiheit. Redakteur Bernd Schekauski war für MDR KULTUR vor Ort und erzählt, wie der Abend in der Frauenkirche verlief.
MDR KULTUR: Zwei höchst unterschiedliche Geister kamen zusammen zum Meinungsstreit: Tellkamp gilt als rechts-konservativ, Generation ostdeutsche Baby-Boomer, Kind der Großstadt. Rietzschel dagegen links-liberal, geboren Mitte der 90er-Jahre, lebt in der sächsischen Provinz. Der letzte große öffentliche Meinungsstreit mit Tellkamp auf offener Bühne war 2018: Da lieferte er sich mit dem Lyriker Durs Grünbein heftige Wortgefechte, auch in Dresden, zum gleichen Thema. Da war wenig zu kitten; Grünbein war damals ziemlich genervt. Was für eine Debatte ist das diesmal gewesen: wieder zwei Männer gegeneinander?
Bernd Schekauski: Richtig entnervt sah diesmal niemand aus. Auch von einem Gegeneinander kann keine Rede sein. Da war nichts von einer Attitüde, sich unbedingt durchsetzen zu wollen gegen den anderen, den Meinungsstreit also gewinnen zu müssen. Ich würde sagen: die beiden Männer haben sich respektiert, höflich auf Augenhöhe diskutiert – und doch gab es nicht wirklich ein Gespräch miteinander.
Das lag vor allem an den sehr unterschiedlichen Temperamenten und Kommunikationsmustern der beiden: Ein scheinbar tiefenentspannter Lukas Rietzschel suchte immer wieder das direkte Gespräch. Tellkamp und er saßen nebeneinander, Moderatorin Alexandra Gerlach am Rand. Rietzschel drehte sich gelegentlich hinüber zu Tellkamp, richtete direkt eine Frage an ihn, rollte also einen Ball zu ihm hin. Tellkamp wiederum nahm solche Angebote meistens scheinbar gar nicht wahr, griff dann hellwach mitunter aber doch nach dem Ball, um ihn dann mit Wucht auf imaginäre Gegner zu schleudern: angeblich gleichgeschaltete Medien, verlogene Politiker und links-grüne Heuchler.
So war dann das Gespräch über weite Strecken leider eher ein Nebeneinander, aus dialogischen Ansätzen wurden oft Monologe. Das wurde unseligerweise auch noch dadurch verstärkt, dass sich die drei Akteure auf der Bühne (obwohl sie relativ dicht beieinandersaßen) schlicht und ergreifend akustisch manchmal nicht verstanden haben – so ein Kirchenraum ist eben nicht gebaut für Mikrofone und Verstärker. Dass sich die drei davon aber kaum haben beeindrucken lassen: Respekt!
"Wie viele Meinungen verträgt die Wirklichkeit?", das war die Überschrift und eine ziemlich große Frage. Der kann man sich politisch nähern, soziologisch. aber auch philosophisch, mitunter auch persönlich-emotional. Wie haben das die beiden Autoren gemacht?
Es ist etwas Ungeheuerliches passiert: Üblicherweise übernehmen Autoren, wenn sie eingeladen werden, auf einer Bühne über ein Phänomen der Politik oder Zeitgeschichte zu diskutieren, die Rolle, die ihnen stillschweigend zugewiesen worden ist. Sie verwandeln sich dann etwa in Polit-Analysten oder Historiker. Manchmal funktioniert das großartig. Oft geht es völlig daneben.
Was macht aber Tellkamp: Er tritt die von ihm erwartete Rolle in Bausch und Bogen zur Seite. Als das Gespräch beginnen soll, die erste Frage an ihn geht, da zeigt er sich als Schuster, der bei seinen Leisten bleibt – also als Dichter: Er antwortet mit Versen – scharfzüngig, ätzend, bissig, dass es sich gewaschen hat!
Er gibt genaugenommen den Schalk, den Eulenspiegel, der der Gesellschaft den Spiegel vorhält. Später wettert er gelegentlich gegen das Theater, das solche Veranstaltungen ja doch nur seien, mit Menschen wie ihm als Narren! Da bricht ein Mann auf offener Bühne mit Gepflogenheiten.
Er hat etliche Seiten mit Versen dabei, darunter immer einer, der irgendwie auf die gerade gestellte Frage passt – das war ein beeindruckender Coup: ein Mann pfeift auf Konventionen, bleibt ganz bei sich! Allerdings fehlte diesem Zug dann doch Leichtigkeit und Witz im Ton und außerdem: der Spiegel, den er vorgehalten hat, der war zwar nicht hohl, hat aber doch die Wirklichkeit aus Sicht mancher Betrachter wahrscheinlich ordentlich verzerrt.
Wie haben denn da die beiden anderen auf der Bühne reagiert: Lukas Rietzschel und die Moderatorin?
Sie haben reagiert mit einer Mischung aus Amüsiertheit und Ratlosigkeit. Toll wäre es gewesen, Rietzschel hätte nun seinerseits Verse aus der Tasche gezogen, aber auf so eine Nummer war er nicht vorbereitet.
De facto verweigerte Tellkamp mit seinem Coup an die zwanzig Minuten das Gespräch, kriegte von seinen Fans im Saal dafür lauten Beifall, in den sich manchmal zustimmendes Johlen und Pfeifen gemischt hat.
Und gerade als Moderatorin Gerlach und Rietzschel sich anschickten, sich eben allein zu unterhalten, da haben die Akustik-Probleme dann doch so Überhand genommen, dass Tellkamp abbrach, es wurden Mikrofone getauscht – und dann erst kamen die drei in ihrem Gespräch an beim Thema.
Kultur aus Sachsen
Wir kommen nochmal zurück zur Grundfrage: "Wie viele Meinungen verträgt die Wirklichkeit?" – mit diesem Thema wird ja ein beinahe unendlich weites Feld aufgemacht. Wie haben die drei das abgesteckt, gab es Beispiele, die diskutiert wurden?
Das ist ein riesiges Feld. Aber nach diesem skurrilen, langen Start wurden gedanklich nicht mehr wirklich große Flächen ausgemessen, es war streckenweise doch eher ein mühseliges Stolpern übers Feld, hin und wieder wurde ein Brocken aufgelesen und etwas intensiver betrachtet – etwa Corona-Politik, das Gendern, Medien angeblich am Gängelband der Politik, ein angeblich vorauseilender Gehorsam von Redakteuren. Das kommt einem natürlich alles sehr vertraut, wenn nicht gar abgekaut vor.
Aber klar: wenn man der Frage nachgeht, wo da die Fronten verlaufen sind in jüngerer Vergangenheit in den besonders erbarmungslos geführten Debatten, wo Meinungsfreiheit angeblich oder tatsächlich eingeschränkt wurde, dann landet man zwangsläufig wieder bei diesen Themen.
Der Meinungsstreit – eher ein Meinungsaustausch – bekam da mitunter doch auch bemerkenswerte Noten: Lukas Rietzschel etwa hat beim leidigen Thema Gendern eingeräumt: ja, macht auch er, gelegentlich jedenfalls, obwohl er sich dessen bewusst sei, dass es da auch um Codes gehe, sprachliche Hinweise darauf also, welchem Milieu man angehöre – kann aber sein, so Rietzschel, dass sich das irgendwann auch wieder von selbst erledigt. Rietzschel also sehr gelassen.
Für Tellkamp wiederum ist Gendern ein rotes Tuch: Er spricht von Druck bei Verlagen, von Zurechtweisungen an Universitäten – nun begreift zwar auch Tellkamp das Gendern, wie er sagt, nicht als das größte aller Probleme, sehr wohl aber als einen Punkt neben vielen anderen, die er als Versuche deutet, Meinungsfreiheit einzuschränken, mehr noch: die er als Vorboten von Diktatur deutet.
Das Bemerkenswerte: Die zwei Autoren machen mitunter ähnliche Problempunkte auf, wiegen und bewerten sie aber grundverschieden. Was für den einen Ausdruck ist für lässliche Malaisen der Demokratie, das interpretiert der andere als existentielle Bedrohung – anders gesagt: dem einen ist Demokratie eine ewige Baustelle, während aus dem anderen eine aggressive Sehnsucht spricht nach einer wie auch immer gearteten reinen, puren Gemeinschaft.
Das klingt nach einer kurzweiligen Veranstaltung, ein Exkurs über das weite Feld Meinungsfreiheit – manchmal also drei, die stolpern, manchmal läuft man über ausgetretene Pfade. Was war so der Erkenntnisgewinn nochmal zusammengefasst?
Vielleicht das: Wenn zwei Menschen mit weit auseinandergehenden Ansichten, unterschiedlichen Prägungen und Erfahrungen, dann auch noch mit verschiedenen Temperamenten zum Diskurs aufeinandertreffen, dann sollte wenigstens einer von beiden ein dickes Fell und große Gelassenheit haben. Tellkamp hat beides nicht. Im Gegenteil, man hat ihn einmal mehr erlebt als einen Mann, der sich überaus sensibel zeigt, wenn jemand, wie er meint, die "Nazi-Keule" schwingt. Oder wenn Aktivisten andere Menschen in Bedrängnis bringen. Oder wenn sich irgendwo Doppelmoral regt. Da empört er sich und fordert zornig Fairness.
Gar nicht fair und gar nicht sensibel geißelt er aber verbale Entgleisungen von Politikern selber mit dem Prädikat "faschistisch", zieht also selber die von ihm gebrandmarkte "Nazi-Keule". Er schießt gelegentlich mit vergifteten Pfeilen, etwa, wenn er verächtlich vom "Habecken" spricht, oder von einem "mit dem Verdienstkreuz behängten Haltungs-Pianisten", dessen Namen er nicht sagt. Solche – nennen wir es mal: Widersprüchlichkeiten muss man erst mal aushalten und hinnehmen können, wenn man nicht will, dass so ein Gespräch eskaliert und vielleicht doch noch aus dem Ruder läuft.
Offenbar scheint das ja mit Lukas Rietzschel einigermaßen funktioniert gehabt zu haben. Der Diskurs in Dresden, war das jetzt ein Beispiel für gute Streit-Kultur?
Es war ein Beispiel dafür, dass es nicht leicht ist. Man sollte sich doch bitte trotzdem nicht immer so schwertun, sich aufeinander einzulassen. Bis hin zu wirklich guter Streitkultur war da am Abend aber immer noch – ich sag mal vorsichtig – viel Luft nach oben.
Das Gespräch führte Moderatorin Julia Hemmerling für MDR KULTUR.
Die Diskussion in der Dresdner Frauenkirche mit Uwe Tellkamp und Lukas Rietzschel anschauen
Redaktionelle Bearbeitung: Hanna Romanowsky
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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 03. März 2023 | 08:40 Uhr