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"Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk" von Peter Wensierski ist eine umfangreiche Recherche zum Tod des DDR-Oppositionellen Domaschk. Bildrechte: Verlag Ch. Links

Sachbuch"Jena-Paradies": Packendes Sachbuch über den Tod des DDR-Oppositionellen Matthias Domaschk

von Matthias Schmidt, MDR KULTUR-Literaturkritiker

Stand: 15. März 2023, 04:00 Uhr

Der Tod des 23-jährigen DDR-Oppositionellen Matthias Domaschk am 12. April 1981 in einem Stasi-Gebäude in Gera ist bis heute nicht endgültig geklärt. Nach offizieller Stasi-Lesart war es Suizid. Doch Domaschks Weggefährten bezweifeln das. Peter Wensierski schildert den Fall in seinem Sachbuch "Jena-Paradies" minutiös. Er hat Tausende Akten ausgewertet und 160 Zeitzeugen befragt. Ein Buch, das sich großartig liest und jede Menge neue Erkenntnisse liefert, findet unser Kritiker.

Es gibt wahrscheinlich niemanden unter uns Journalisten, der besser über die Jugendopposition in der DDR informiert ist als Peter Wensierski. Seit den 80er-Jahren beschäftigt er sich mit dem Thema; er ist immer drangeblieben an den Menschen, an den Akten, hat sich bei Betroffenen Vertrauen erarbeitet. Und nachdem er bereits mit dem vorherigen Buch "Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution" über die Leipziger Oppositionellen und die Vorgeschichten der berühmten Montagsdemos Unglaubliches geleistet hat, schafft er das nun mit diesem Buch für Jena.

Darin stecken viele neue Erkenntnisse aus 60.000 Seiten Stasi- und Polizei-Akten, aus Tagebüchern und Briefen sowie Gesprächen mit 160 Zeitzeugen und 30 ehemaligen Stasi-Mitarbeitern. Wensierskis Buch ist die Messlatte für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema.

Peter Wensierskis Buch liest sich wie ein Roman

Die letzten Tage von Matthias Domaschk werden wie ein Roman erzählt. Wensierski hat aus allen verfügbaren Quellen eine detaillierte Handlung gebaut: Sie beginnt am Freitag, dem 10. April 1981 in Jena, und sie endet am Sonntag, dem 12. April 1981 in Gera. An diesem Wochenende wollte Matthias Domaschk mit einem Freund nach Berlin fahren. Sie wollten feiern, Freunde aus anderen Städten des Landes treffen, sie wollten Bücher und Schallplatten aus dem Westen erhalten. Aber dazu kam es nicht. Stattdessen wurde es seine letzte Reise. Eine Reise, die mit seinem Selbstmord in der Stasi-Haft in Gera endet.

Das Konzept des Buches geht auf. Es liest sich großartig. Es ist atemberaubend.

Matthias Schmidt, MDR KULTUR-Literaturkritiker

Wensierski erzählt diese drei Tage quasi Minute für Minute aus Domaschks und aus der Perspektive der Stasi-Ermittler. Die nämlich vermuteten hinter der Reise nach Berlin einen oppositionellen Angriff auf den X. Parteitag der SED, der genau an diesem Wochenende in Berlin stattfand. Sie verhafteten Domaschk und seinen Begleiter direkt aus dem Zug, den sie extra in Jüterbog stoppten. Sie verhörten ihn, setzten ihn unter Druck, zermürbten ihn so sehr, dass er schließlich sogar einer Zusammenarbeit mit der Stasi zustimmte, woraufhin er sich nach drei Tagen voller Schikanen in Gera umbrachte.

Der Journalist und Autor Peter Wensierski ist Experte für die Jugendopposition in der DDR. Bildrechte: Jannis Werner

Ein vielschichtiger Blick auf die DDR

Das Konzept des Buches geht auf. Es liest sich großartig. Es ist atemberaubend. Wensierski macht nicht nur miterlebbar, was unmittelbar geschah, sondern er schaut in Rückblicken auch auf die Vorgeschichte. Auf die Geschehnisse rund um die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 etwa, bei denen die Jenaer Kreise eine große Rolle spielten. Auch darüber sind viele neue Details zu erfahren, darüber, wie Leute wie Jürgen Fuchs und auch Roland Jahn Kontakte nach Berlin suchten, zu Schriftstellern, aber auch zu vielen jungen Leuten im Land, die genauso schockiert wie sie waren.

Wensierskis Buch ist die Messlatte für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema.

Matthias Schmidt, MDR KULTUR-Literaturkritiker

Zudem nimmt sich Wensierski die Zeit, in die Biografien der Stasi-Leute zu blicken, auch das ist aufschlussreich. Mit der Gnade des großen zeitlichen Abstands entsteht so ein sehr vielschichtiger Einblick in dieses Land DDR, das viele unterstützten, in dem viele schweigend mitmachten und einige wenige eben aufbegehrten. Dieser etwas weitere Blick, der früheren Publikationen nicht möglich war – zu frisch waren die Wunden, zu aufgeheizt die Debatten – ist eine große Bereicherung.

In seinem Sachbuch "Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk" zeichnet Peter Wensierski die letzten Tage des DDR-Bürgerrechtlers Domaschk nach. Bildrechte: Verlag Ch. Links

Die einfallsreichen Methoden der DDR-Opposition

Neben der Überzeugung dieser jungen Leute, ihrem unbedingten Willen, etwas in der DDR ändern zu wollen, besticht vor allem ihr Einfallsreichtum. Ihre Proteste sind oft frech und mit Humor angelegt. Beispielsweise als sie an einem 1. Mai ein eigenes Transparent anfertigen und an ihr Wohnhaus in Jena hängen: "Wie jedes Jahr am 1. Mai sind wir für Losung Nummer 2" steht darauf. Als die Stasi kommt und verlangt, das Plakat zu entfernen, sagen sie, Losung Nummer 2 sei doch "Proletarier aller Länder, vereinigt euch". Zugleich fotografierten sie solche Aktionen und verschickten die Bilder als Postkarten durch das Land – es ist, bei allem Ernst, immer auch ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Stasi.

Der Fall Matthias Domaschk und seine Folgen

Den Folgen des Falles Domaschk ist das letzte Kapitel des Buches gewidmet, in dem alles erzählt wird, was danach geschah. Dass die Opposition in Jena nach Domaschks Tod nicht schwächer, sondern stärker wurde, mehr Aktionen als zuvor veranstaltete. Dass auch die, die das Land verlassen wollten oder mussten, immer weiterarbeiteten, zum Beispiel Roland Jahn, genannt "Gag", der später die Stasi-Unterlagenbehörde leitete. Wir erfahren auch, dass der Fall Domaschk im Grunde juristisch nie zufriedenstellend abgeschlossen wurde und dass Freunde von ihm bis heute an der Stasi-Version vom Selbstmord zweifeln.

Ein Schriftzug an der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße am 19. Februar 1990. Bildrechte: imago images/Rolf Zöllner

Gemeinsamkeiten der Jugend in Ost und West

Sehr spannend ist nicht zuletzt, dass Wensierski am Ende mit einer eigenen Analyse schließt, die sogar Gemeinsamkeiten von Ost und West in diesen Jahren entdeckt. Denn auch im Westen rebellierte ein Teil der Jugend: in linken Gruppen, in der Friedensbewegung. Als Hausbesetzer. Mit ihrer Musik. "Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wuchs eine neue Generation heran – mit frischen Ideen, abweichenden Gefühlen und alternativen Lebensvorstellungen, inspiriert von einer weltweit radikalen Veränderung der Jugendkultur", schreibt Wensierski.

Vieles davon erzählt er in diesem Buch, vieles davon wirkt aber ganz sicher in jedem Leser nach. Man muss nur mal die alten Ton Steine Scherben-Platten wieder auflegen, da steckt diese Jugendrevolte drin, und gehört wurde diese Musik damals auch im Osten. Eine bessere "Erinnerung" an "Matze" und seine Freunde in Jena als dieses Buch gibt es nicht.

Mehr zum Buch

Peter Wensierski: "Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk"
Christoph Links Verlag, 2023
368 Seiten
25 Euro
ISBN: 978-3-96289-186-2

Veranstaltungen mit dem Autor

Termin: 23. März, 18 Uhr in der Gedenkstätte Amthordurchgang
Adresse: Amthordurchgang 9, 07545 Gera

Termin: 24. März, 19.30 Uhr in der Villa Rosenthal
Adresse: Mälzerstraße 11, 07745 Jena

Termin: 25. März, 15 Uhr in der JG Stadtmitte
Adresse: Johannisstraße 14, 07743 Jena

Termin: 27. März, 19 Uhr in der Stadtbibliothek Ilmenau
Adresse: Bahnhofstr. 7, 98693 Ilmenau

Termin: 29. April, 20.30 Uhr im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig
Adresse: Grimmaische Straße 6, 04109 Leipzig

Redaktionelle Bearbeitung: Hendrik Kirchhof

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 15. März 2023 | 08:10 Uhr