"Jüdisches Leipzig"Neues Buch zeigt das einstige, pulsierende jüdische Leben Leipzigs
Henriette Goldschmidt, Gustav Mahler und Kurt Wolff – bis zum Beginn des Nationalsozialismus hatte Leipzig eine der größten und pulsierendsten jüdischen Gemeinden Deutschlands. Viele Spuren dieser sind heute noch im Stadtbild sichtbar. Mit ihrem Buch "Jüdisches Leipzig" lädt die Autorin Nora Pester dazu ein, die Menschen und Orte hinter diesen Spuren zu entdecken und auch denjenigen zu folgen, die ausgelöscht wurden oder ins Exil führten.
Nora Pester, geboren 1977 in Leipzig, läuft durch die Stadt und biegt in die Springerstraße ein. Sie zeigt auf ein Wohngebäude unserer Zeit. Vor 80 Jahren standen hier vermutlich Gründerzeithäuser, und in einem, der Nummer 32, lebte die Familie Pohorylle.
Aufstieg der Nazis
Man schrieb das Jahr 1929, die jüdische Familie – mit Wurzeln in Ostgalizien – kam aus Stuttgart. Der Vater startete in Leipzig ein Unternehmen und gründete eine Eier-Importfirma. Tochter Gerda war damals 19 Jahre alt. Die kommenden Jahre dürften für sie prägend gewesen sein: neues Umfeld, neue Freunde und eine aufbrandende braune Politik, die nichts Gutes verhieß.
Sie erlebte den Aufstieg des Nationalsozialismus, wird dadurch, aber auch durch einen neuen Freundeskreis ein politisch denkender Mensch. Sie engagiert sich, ist an Flugblatt-Aktionen beteiligt.
Nora Pester, Hispanistin und Politikwissenschaftlerin
Gerade noch rechtzeitig genug emigrierte sie nach Paris, lernte dort ihren späteren Partner, den Fotografen Robert Capa, kennen und wurde als Gerda Taro später eine renommierte Kriegsreporterin.
Stadtführer zum Entdecken jüdischen Lebens in Leipzig
Es ist nur ein Beispiel von etwa 50 in diesem Buch, und vermutlich gäbe es noch viele interessante Biografien zu entdecken, zu dechiffrieren und damit jüdische Schicksale dem Vergessen zu entreißen. Nora Pester führt mit ihrem Buch auch in die Stadtgeschichte: an Orte und Plätze, zu Geschäften, Theatern, Konzertsälen – dorthin, wo Menschen einst gewirkt, gelebt und geliebt haben.
Doch es ist eben auch immer eine Geschichte zwischen Akzeptanz, Vertreibung, Ausgrenzung und Konflikten. Das Buch gibt Einblick in Lebenswelten mit den unterschiedlichsten Biografien: Der Komponist Hans Eisler gehört dazu, der Musikverleger Henri Hinrichsen, die Musiker Rolf und Joachim Kühn, aber auch die Anwältin Felicia Schulsinger-Hart. Sie war die erste und einzige jüdische Anwältin mit einer eigenen Kanzlei in Leipzig. Bis 1933. Dann bekam auch sie Berufsverbot.
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Schicksale zwischen Akzeptanz und Vertreibung
Das Buch skizziert Lebens- und Berufswege von Musikern, Händlern, Rabbinern, Lithografen, Besitzer von Rauchwarenläden, denn der Handel mit Pelz- und Lederwaren war in Leipzig von Bedeutung. Bei einem dieser Händler lernte auch der junge Hermann Axen nach der Schule einen kaufmännischen Beruf. Er lebte in einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie, wurde 1916 in Leipzig geboren. Später – in der DDR – war er für Agitation und Propaganda zuständig. "Seine Biografie ist eine besonders tragische", so Nora Pester.
... er und seine Familie haben sämtliche Strukturen im Nationalsozialismus durchlaufen und durchlitten. Er selbst war im Zuchthaus, im Exil, hat verschiedene Konzentrationslager erlebt und überlebt. Und macht dann 1945 eine steile Karriere in der DDR.
Nora Pester, Autorin "Jüdisches Leipzig"
Er war Chefredakteur des "Neuen Deutschland", ab 1966 maßgeblich für die Außenpolitik zuständig. Sich gegen den Faschismus zu stellen, war zeitlebens seine Motivation. Doch um welchen Preis? Nora Pester wertet nicht, sondern erarbeitet die Biografien einer Stadtgeschichte, die so vielseitig sind wie eine Stadt selbst: Mäzene, Ärzte, Wissenschaftler, Künstler, Kaufleute und eben politisch denkende Menschen, die auch in einem nächsten System ihre Ideale in konkretes Handeln umsetzten – nicht in dem jedem Fall zum Guten aller.
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Zuschriften aus Leipzig, Deutschland und der Welt
Die Resonanz auf das Buch sei groß, sagt die Autorin. Auch weil sich Angehörige – oftmals aus der dritten Generation – auf den Weg machten, um mehr über ihre Vorfahren herauszufinden. "Ich wollte mit diesem Buch gerne zeigen, wie vielfältig jüdisches Leben in der Stadt und außerhalb gewesen ist."
Es ist eine Einladung, Lebenswege zu entdecken, von Schicksalen zu erfahren, beeindruckende Persönlichkeiten kennenzulernen, aber auch Menschen, die später vermutlich weniger stark die jüdischen humanistischen Ideale zum Wohle anderer eingesetzt haben.
Weiterführende InformationenNora Pester: "Jüdisches Leipzig – Menschen, Orte, Geschichte"
Verlag Hentrich & Hentrich
180 Seiten mit Abbildungen
ISBN: 978-3-95565-562-4
(Redaktionelle Bearbeitung: Tina Murzik-Kaufmann)
Kultur in Leipzig
Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR am Mittag | 09. März 2023 | 13:10 Uhr