"Leben im Schatten der Stürme" – Erkundungen aus der KrimWas denken die Menschen auf der Krim? Landolf Scherzers Reportage findet Antworten
Landolf Scherzer weiß, wie man überall auf der Welt mit Menschen ins Gespräch kommt, damit sie von sich erzählen. Auf der Krim klappt das nicht. Er fand ein Paradies, in dem die Leute es schwer haben, glücklich zu sein. Darüber hat er eine wunderbare Reportage geschrieben.
Der Ausblick von Landolf Scherzers Haus an einem Hang im Thüringer Wald ist grandios. Über selbstgezogene Tomaten, Kürbisse, zahllose Blumen blickt er in ein bunt-grünes Tal, in dem zufällig gerade ein Reh ungestört Gras kaut. Doch über sein jüngstes Buch möchte er lieber weiter tiefer im Wald sprechen, neben dem zersplitterten Stumpf einer vom Sturm gefällten Fichte.
Ich habe noch nie ein Buch gemacht, was mir so schwer auf dem Herzen liegt. Nicht im oder am – sondern auf dem Herzen. Deswegen habe ich auch diesen Platz ausgesucht – wie eine zerborstene Welt.
Landolf Scherzer
"Leben im Schatten der Stürme" heißt seine Reportage über die Krim, die am 20. September 2022 im Aufbau-Verlag erscheint. 2019 war Landolf Scherzer für mehrere Wochen auf der Halbinsel, die 2014 nach einem von Moskau initiierten Referendum von Russland annektiert wurde. Er wollte mehr über die Krimtataren erfahren, einer muslimischen Volksgruppe, die sich schon vor über einem halben Jahrtausend auf der Halbinsel angesiedelt hatte. Von Stalin wurden sie 1944 wegen angeblicher Kollaboration mit den deutschen Faschisten ausnahmslos von der Krim verbannt und deportiert. Erst 1989 durften die Krimtataren wieder zurückkommen, doch ihr einstiges Land gehörte längst anderen. Scherzer wollte die Geschichten der Heimkehrer erfahren, von ihrer Vertreibung, ihrem Überleben, ihren Traditionen, vom Ankommen in eine fremde Heimat, hin und hergerissen zwischen Russland und Ukraine.
Reisereporter Landolf Scherzer findet großartige Geschichten
Landolf Scherzer ist ein hervorragender Reisereporter, der in aller Welt – in China, Griechenland oder Thüringen – mit den einfachen Leuten ins Plaudern gerät, und ihnen für seine zahlreichen Bücher großartige philosophische Geschichten zu entlocken weiß. 2019 zog er nun bei einer tatarischen Familie in Saki ein. Saki ist ein Kurort, weltberühmt für seine Sanatorien und den Heilschlamm. Angeblich soll nach einer historischen Schlacht ein tödlich verwundeter Krieger in jenem Schlamm liegen gelassen worden sein: Nach drei Tagen war er wieder auf den Beinen. Doch Wiederauferstehung und Tod sind unmittelbare Verwandte.
Muslimische Weinbauern, verschwundene Putingelder und Sprichwörter
Eben jenes Saki war im August dieses Jahrs in den Nachrichten. Auf dem nahen Flugplatz explodierten ein Munitionslager und mehrere Flugzeuge. Der Krieg ist inzwischen auch auf der Krim angekommen. Umso mehr drängt es Scherzer, vom normalen Leben zu erzählen, dem er dort vor drei Jahren begegnete, der Lebensfreude und der Poesie. So erzählt er von muslimischen Krimweinbauern ("selbst gemachter Wein ist kein Alkohol"), von seinen neuen Kuhbrüdern, von Panzerkauf, verschwundenen Putingeldern und überkletterten Bauzäunen und vom Durchwurschteln in einem Land, dem vieles fehlt und: Das doch alles hat. In allem begegnet ihm Poesie. Die Tataren decken ihn mit Sprichwörtern ein: vom "Gebot des nützlichen Lebens" bis hin zum Vergleich vom: "Gast als fruchtbarer Regen, der die Wüste des Alltags zum Blühen bringt".
Es ist die Sprache eines Paradiesvolkes. Diese Krim ist ein Paradies.
Landolf Scherzer über die Menschen auf der Krim
Vertreibung, Leid und der russisch-ukrainische Konflikt
Und doch, trotzdem er russisch spricht, fällt es ihm schwer, in das Innerste der Leute vorzudringen. Über die leiderfüllte Geschichte der Vertreibung oder den heutigen russisch-ukrainischen Konflikt, über eine politische Zukunft will keiner so recht mit ihm reden.
Er erzählt: "Ich habe auch mit wenig Sprachkenntnissen immer hinbekommen, dass die Menschen mit mir über ihre Probleme gesprochen haben. Einfach nach der Methode, indem ich erzählt habe: Ich habe soundso viel Enkel und ich mache das und das gern, und zu Hause züchte ich Tomaten. Dann kannst du die Leute auch fragen: 'Hey, züchtet ihr auch Tomaten oder was macht ihr?' Auf diese Art und Weise entsteht dann ein Gespräch. Hat überall funktioniert. In Mosambik, in China, auf Kuba, überall. Dort nicht. Auf der Krim zum Ersten Mal nicht." Der Baustellenwächter Anatoli erklärt es ihm so:
Zitat aus "Leben im Schatten der Stürme":"Pass auf, mein Freund. Zwei Frauen, eine mit blonden Haaren, die andere mit schwarzen, wollen dich heiraten und streiten sich um deine Gunst. Das ist erst einmal sehr angenehm für dich, denn du kannst dir eine aussuchen. Aber wenn dich dann die Nachbarn fragen, welche der beiden du nehmen wirst, wärst du ein großer Esel, wenn du öffentlich verkündest: 'Ich nehme natürlich die Blonde, die ist schöner und fleißiger!' Denn wenn du danach erfährst, dass die Schwarzhaarige als Mitgift ein Haus, ein Auto und zehn Pferde bekommt, wirst du trotzdem die Blonde heiraten müssen. Bleibst also ein Leben lang ein Habenichts und kannst von dem Haus, dem Auto und den zehn Pferden der Schwarzhaarigen nur träumen.
"Anatoli, du bist ein Schlitzohr", sage ich grinsend. Er schüttelt den Kopf. "Nein, nur ein praktisch denkender Mensch."
"Frieden auf der Krim und keinen Krieg im Osten der Ukraine"
Landolf Scherzer wirft in seiner Reisereportage natürlich trotzdem einen tiefen und scharfen Blick in die Geschichte des Landstrichs, in das Leid, das die Bewohner ertragen mussten, und ihren unbändigen Willen, trotzdem nach dem Glück und nach Frieden zu streben. An manchen Orten stehen große Findlinge mit einem Handabdruck in deren Mitte: sogenannte Wunschsteine. Dort hinein kann man seine Hand legen – und sich etwas wünschen.
Die meisten Passanten, die tatsächlich, ob abergläubisch oder nicht, ihre Hand unbeobachtet da hineinlegen, verraten ihm ihre Wünsche nicht. Doch zwei dicke Männer sagen ihm dann direkt ihren sehnlichsten Wunsch: "Frieden auf der Krim und keinen Krieg im Osten der Ukraine." Der Name "Krim" leitet sich übrigens vom krimtatarischen Wort "Stein" ab: "großer Stein". Und das ist sie bis heute: ein Stein des Anstoßes. Umkämpft, besetzt, belagert. Ein Paradies, sagt Scherzer, in dem die Menschen es bis heute schwer haben, glücklich zu sein.
Informationen zum BuchLandolf Scherzer: "Leben im Schatten der Stürme" – Erkundungen aus der Krim
Erschienen im Aufbau-Verlag
Hardcover mit Schutzumschlag und Abbildungen
318 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-351-03978-3
Zum Weiterlesen
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | artour | 15. September 2022 | 22:10 Uhr