"Any Day Now" Ein Leben in Bildern – das Tagebuch der Leipziger Künstlerin Franziska Junge
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Es gibt viele Arten, die eigenen Erlebnisse zu verarbeiten: Manche schreiben Tagebuch, andere machen Fotos. Franziska Junge hingegen zeichnet, was ihr am Tag widerfahren ist. Mit dem Buch "Any Day Now" macht die Leipziger Illustratorin ihrem Publikum diese Erlebnisse nun zugänglich. Darin begleiten wir sie auf ihrem Werdegang von der Studentin bis zur angehenden Künstlerin, Ehefrau und Mutter.

Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte Franziska Junge nicht während ihres ersten Semesters an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle neben einer Druckerei gewohnt. "Da gab’s im Müll immer diese Reste von den Offset-Rollen", erzählt Junge. Sie nahm das weggeworfene Druckpapier mit nach Hause. "Ich habe das an die Wand gemacht, in meinem Zimmer, und da war das immer präsent."
Eine Idee, scheinbar aus dem Müll geboren
Die schier endlosen Bahnen forderten die Studentin der Illustration förmlich dazu auf, darauf eine Arbeit zu beginnen, die den üblichen Rahmen sprengt. Franziska Junge begann mit Tagebuchaufzeichnungen – im wörtlichen Sinn. Sie zeichnete jeden Abend ein Bild. Davon, was ihr am Ende eines Tages im Gedächtnis hängengeblieben war.
Das war eher so eine Art Übung. Inwiefern kann ich, was ich erlebt habe, aus der Erinnerung zeichnen? Wie genau ist das dann, wenn ich es versuche?
Neun Jahre, von 2003 bis 2012, hat sie dieses Experiment betrieben. Das Resultat: rund 2.000 Filzstift-Zeichnungen in schwarz-weiß. Die fielen irgendwann dem Verleger Marcel Raabe auf, der in Leipzig den kleinen, auf ungewöhnliche Buchprojekte spezialisierten Verlag Trottoir Noir führt. Er hat das Konvolut nun in einem Bildband mit dem Titel ANY DAY NOW veröffentlicht.
Zwischen Badewanne und künstlerischen Druckwerkstätten
Beim Blättern trifft man die Künstlerin, die immer an ihrer Brille erkennbar ist, in der Badewanne, beim Videoschauen im Bett, auf Studentenpartys oder bei der Arbeit in den künstlerischen Druckwerkstätten der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, wohin Franziska Junge gewechselt ist. Dazwischen Stipendien und Studienreisen, etwa nach Kairo, London oder Italien. Beiläufig tauchen besondere Ereignisse auf: neben ihrer Hochzeit, etwa die Geburt ihres ersten Kindes, ihr Diplom und ihr Abschluss als Meisterschülerin. "Also, wenn man wirklich jeden Tag nimmt, dann gibt es eben viele Tage mit Im-Bett-Liegen, Am-Schreibtisch-Sitzen, Zeichnen, und dann gibt’s halt die Tage, wo ein Tag dann eben mal die Hochzeit ist."
Zuweilen fühlt man sich als Betrachter im Rhythmus der Linien, Muster und Strukturen etwas verloren, kann den Inhalt mancher, mit lockerer Hand skizzierter Szene nur schwer deuten. Zumal die Künstlerin auf Bildunterschriften und Seitenzahlen absichtlich verzichtet hat. Nur zu Beginn eines jeden Jahres listet sie die abgebildeten Begebenheiten in Stichpunkten auf. Für die Illustratorin ist dieser Abstand wichtig. Handelt es sich doch –bei aller zeichnerischen Abstraktion – um ein Tagebuch: "Das ist das Offene, wo ich mich selber nicht ganz so nackig mache, obwohl ich manchmal ganz schön nackig bin."
Tägliches Zeichnen als Meditationsübung
Ist man bereit, sich auf diese Fülle an Bildern einzulassen, so kann man mit ANY DAY NOW den Werdegang einer jungen Künstlerin mitverfolgen, die sich zwischen Bohème und Mutterschaft, Erwachsenwerden und jugendlicher Albernheit ihren Weg bahnt. Das Buch macht auch für Franziska Junge diese Entwicklung greifbar.
Es wird einfach auch sichtbar, wieviel Leben in der Zeit passiert ist. Es sind ja zehn Jahre, es sind 600 Seiten und wenn man im Leben drinsteckt, also im Alltag, dann kriegt man das ja gar nicht mit.
Irgendwann fordert dieses Leben dann auch zusehens mehr von ihr ab – mehr und mehr Bilder bleiben deshalb ungezeichnet. Im Buch haben sie als leere Bildrahmen ihren Platz.
Heute, fast zehn Jahre später, hat die Illustratorin wieder mit dem Zeichnen ihres Tagebuchs angefangen. Einzelne Blätter daraus veröffentlicht sie auf ihrem Instagram-Kanal. "Für mich ist es ein Erkunden. Es ist ein Ausprobieren, aber es ist auch ein Nach-Hause-Kommen. Weil ich das wirklich ganz für mich mache. Ich lasse einen Tag Revue passieren und sammle mich. Das hat auch was Meditatives."
Auch wenn Franziska Junge inzwischen ins Skizzenbuch und nicht mehr auf ausrangierte Offset-Papierrollen zeichnet, haben ihre Bilder noch genau diesen Charme des Unperfekten und Lebendigen, der auch ihr Bildertagebuch ANY DAY NOW so anziehend macht.
Weitere Informationen zum Buch
Franziska Junge
ANY DAY NOW
Tagebuchaufzeichnungen von 2003 - 2012
Verlag Trottoir Noir
592 Seiten, ca. 2.500 Zeichnungen s/w
50 Euro
ISBN 978-3-945849-22-4
(Redaktionelle Bearbeitung: Tina Murzik-Kaufmann)
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR am Nachmittag | 09. November 2022 | 18:10 Uhr