Gespräch zum 75. Geburtstag Leipziger Lyriklegende Andreas Reimann: Schreiben aus Notwehr

11. November 2021, 04:00 Uhr

Als bedeutendsten Sonettdichter deutscher Sprache würdigte ihn die Süddeutsche Zeitung. Aus seinen Versen sprechen oft Trauer und bitterer Witz. Andreas Reimann verlor früh Vater und Mutter, flog wegen "staatsfeindlicher Hetze" vom Literaturinstitut "Johannes R. Becher", saß in Stasi-U-Haft. Als Opfer sah er sich nie. Da er in der DDR lange nicht publizieren konnte, lernte er, "den Zeitgeist zu ignorieren" – und überlebte, auch indem er Chansons für Stefan Krawczyk oder die Dresdner Rockband Lift verfasste. Am 11. November 2021 wurde der Spross einer Leipziger Künstlerfamilie – sein Großvater Hans Reimann schrieb "Die Feuerzangenbowle" – 75 Jahre alt.

Alexander Mayer, MDR KULTUR: Ein Lyriker schreibe in seinem Leben vielleicht fünf, sechs gute Gedichte. Das hat Gottfried Benn, einer der bedeutendsten deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts, der nicht ohne Einfluss auf dich war, mal gesagt. Ein ernüchternder Befund, oder?

Andreas Reimann: Fünf, sechs Gedichte, die bleiben, wären schon was. Bei dem Satz war Benn das Bonmot aber auch vielleicht wichtiger als seine Überzeugung.

Wenn wir auf dein Lebenswerk schauen, das ja gerade in der Connewitzer Verlagsausgabe in einer Gesamtausgabe erscheint, wäre eins dieser fünf Gedichte "Beethovenstraße 2a". Was hat es mit dieser Leipziger Adresse auf sich?

Dort befand sich bis 1989 die Untersuchungshaftanstalt des MfS. Ich war dort anderthalb Jahre.

Die Süddeutsche Zeitung würdigte dich unlängst als bedeutendsten Sonett-Dichter deutscher Sprache. Warum hast du diese heute ungewöhnliche Form immer wieder gewählt, um deine biografischen Erfahrungen zu fassen zu bekommen?

Meine frühen Gedichte waren von Barock und expressionistischer Lyrik stark beeinflusst. Das waren Kaskaden von Bildern, immer Seiten lang. Die Form des Sonetts zwingt zu äußerster Disziplin. Nicht nur formal, sondern auch inhaltlich. In den 14 Zeilen, die vorgegeben sind, muss alles gesagt sein oder es ist eben nicht gesagt. Inzwischen bin ich so vollkommen drin in dieser Form, dass ich manchmal erst hinterher merke: Ach, jetzt hast du wieder ein Sonett geschrieben.

Du hast die barocken und expressionistischen Einflüsse auf dein Schreiben genannt, es gibt auch andere, bis hin zu Brecht. Wie bewusst passiert diese Aufnahme von Traditionen?

Nicht sehr bewusst. In meinem ersten Band ("Die Weisheit des Fleischs", erschienen 1975 im Mitteldeutschen Verlag - A.d.R.) ist ein fünf Seiten langes Gedicht übers Fressen drin. Das ist eine unglaubliche Hunger-Fantasie. Das hat weniger mit dem Barock zu tun, sondern mit den Lebensumständen, nämlich der Mindestrente meiner Großmutter, bei der wir teilweise aufgewachsen sind.

Connewitzer Verlagsbuchhandlung
Connewitzer Verlagsbuchhandlung: In diesem Leipziger Verlag erscheint derzeit eine Gesamtausgabe der Gedichte von Andreas Reimann. Bildrechte: Connewitzer Verlagsbuchhandlung

Du galtst in der DDR zunächst als literarisches Wunderkind, hast mit zehn Jahren und einigem Erfolg im "Neuen Deutschland" veröffentlicht, dein erstes Gedicht hieß "Sturm", ausgestrahlt wurde es auch beim Sender Leipzig. Der Literaturwissenschaftler Peter Geist hat darüber geschrieben, bei aller Konventionalität sei in diesem Gedicht im Kern schon alles enthalten, was später den Dichter Andreas Reimann ausmachte: der große Gegenstand, der hohe Ton und der unbedingte Formwille. Wo kommt das alles her, bei einem Kind?

Das Kind war durchs Kinderheim ziemlich beschädigt und hatte schon unheimlich viel gelesen. Was es verdaut hatte, weiß ich nicht. Übrigens waren es fast nur gereimte Gedichte, die ich las, so dass ich mir längere Zeit einbildete, ein Gedicht müsse eben gereimt sein und meistens auch strophisch aufgebaut.

Dieses etwas wirklichkeitsfremde Kind jedenfalls kommt zum ersten Mal an die Ostsee. Und da passierte einfach dieses Gedicht, durch den Zusammenstoß von Bildung und und Naturwirklichkeit. Eine seltsame Form von Urknall.

Im Bücherschrank der Großmutter standen Schiller, der 'Karl May für Bildungsbürger' (Reimann), und Goethe. Und auf dem Speiseplan die waldein gesammelten Pilze und Beeren sowie die solidarischen Deputat-Konserven von Sowjet-Offizieren aus der Nachbarschaft.

Peter Geist, Literaturwissenschaftler In einer Laudatio auf Andreas Reimann, 2016

Deine Kindheit sieht von außen betrachtet und kurz gefasst so aus: 1953: Flucht des Vaters Peter Reimann vor der Verhaftung aus politischen Gründen nach West-Berlin. Ein Jahr darauf Freitod der Mutter, die Künstlerin und Grafikerin war. Du kommst zu Verwandten, dann ins Heim. Mein Großvater hat versucht, dich da rauszuholen und zum Vater nach West-Berlin zu bringen. Das flog auf. Mein Großvater bekam sechs Jahre Zuchthaus, danach kam dein Vater in West-Berlin ums Leben, unter bis heute ungeklärten Umständen. Deine Biografie ist tief geprägt von den Abgründen und Brüchen dieses oft so katastrophalen 20. Jahrhunderts. Wie schaust du heute darauf?

Von außen sieht es immer viel schlimmer aus. Anderthalb Jahre Untersuchungshaft klingt tragisch. Aber für mich war es ja ein Tag und noch ein Tag ... Ich wusste ja nicht, wie lange es geht. Andernfalls wäre es sicher unerträglich geworden.

Verwandschaftlich verbunden: A.d.R. Dass sich Andreas Reimann und Alexander Mayer im MDR KULTUR-Gespräch duzen, hat einen verwandtschaftlichen Grund, sie haben einen gemeinsamen Großvater bzw. Urgroßvater mütterlicherseits, den expressionistischen Leipziger Maler und Grafiker Otto Pleß.

Du hast Mitte der 1960er-Jahre ein Literaturstudium in Leipzig aufgenommen, wurdest nach vier Monaten aus politischen Gründen exmatrikuliert. 1968 kamst du wegen "staatsgefährdender Hetze" in Stasi-U-Haft. Ist Schreiben immer so eine Art Notwehr für dich gewesen?

Ich habe beizeiten begriffen, dass ich mir meine Probleme buchstäblich "abschreiben" kann. Die selbsttherapeutische Wirkung des Schreibens wird manchmal ein bisschen überschätzt. Aber, wenn man Gedichte nicht bastelt, sondern wartet, bis sie einem passieren und schaut auf welchen Punkt sie zulaufen, da erfährt man natürlich schon eine Menge über sich.

Es ist kaum einem Schriftsteller in der DDR vom System so übel mitgespielt worden wie dir. Du betonst gleichwohl immer wieder, dass Du kein Opfer bist. Warum bist Du nicht in den Westen gegangen. Was hat Dich hier gehalten?

Dass ich durchaus der Meinung war, dass die Welt veränderbar ist. Man glaubte, dass man gebraucht wird. Ein außerordentlich schönes Gefühl, was bei mir später nie wieder so aufgekommen ist.

Ist die Friedliche Revolution von 1989 für dich noch rechtzeitig gekommen? Wie blickst du zurück?

Sie ist rechtzeitig gekommen, weil ich endlich endlich reisen konnte, so weit ich wollte, so weit es das Konto zuließ. Ansonsten hat sich für mich ganz persönlich nicht viel geändert. Jetzt erscheinen meine Bücher, aber in der unglaublichen Menge von Literatur und Schreib-Dein-Buch-Blödsinnigkeiten geht ein einzelner Gedichtband einfach unter.

Ich habe mir nach dem Gefängnis schon angewöhnt, dass ich meine Sachen für mich machen muss. Damals hatten nicht sehr viele Kollegen das Interesse oder den Mut, mit mir öffentlich gesehen zu werden.

Dass ich lange nicht veröffentlichen konnte, hatte immerhin zur Folge, dass ich Gedichte schreiben musste, die vielleicht auch in 20 Jahren noch jemand lesen will. Ich habe gelernt, den Zeitgeist zu ignorieren.

Andreas Reimann

Ich mache meine Arbeit so, wie sie meiner Meinung nach getan werden muss, sei es um Sprache, sei es um bestimmte Denkweisen zu bewahren.

Das Gespräch führte Alexander Mayer, MDR KULTUR. (2021)

Zur Person: Andreas Reimann

Andreas Reimann ist Lyriker, Journalist und Grafiker. Geboren am 11.11.1946 als Sohn einer Leipziger Künstlerfamilie, begann er 1965 ein Studium am Literaturinstitut "Johannes R. Becher".

Exmatrikuliert wegen seiner Kritik an der Kulturpolitik der SED, wurde Andreas Reimann 1966 zum Wehrdienst eingezogen, 1967 wieder entlassen. Ab 1968 saß er anderthalb Jahre im Gefängnis wegen "staatsgefährdender Hetze", danach war Andreas Reimann Brauerei-Hilfsarbeiter, Lager- und Transportarbeiter und Lohnbuchhalter.

Seit 1973 lebt er als freier Schriftsteller, zwei seiner Gedichtbände erschienen in der DDR, sein Debüt unter dem Titel "Die Weisheit des Fleischs" 1975 im Mitteldeutschen Verlag. Später bekam er eine Publikationssperre. Er überlebte materiell lange als Chanson-Dichter, schrieb über 500 Lieder für Stefan Krawczyk ("Der Clown"), für Hubertus Schmidt, für die Dresdner Rockband Lift.

Ab 1993 folgten weitere Buch-Veröffentlichungen. 2006 erschien "Der trojanische Pegasus" im Mitteldeutschen Verlag, eine Gedichtsammlung aus allen Schreibphasen des Autors und über 50 Erstveröffentlichungen.

2012 erschien in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung der Band "Bewohnbare Stadt" mit Gedichten Reimanns über das alte und das neue Leipzig, ausgezeichnet mit dem Rössing-Preis als schönstes Buch über Stadt und Region.

Derzeit bringt die Connewitzer Verlagsbuchhandlung eine auf elf Bände angelegte Gesamtausgabe heraus, gefördert durch die Andreas Reimann Gesellschaft.

Buchtipp Derzeit erscheint eine auf elf Bände angelegte Gesamtausgabe in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung, gefördert durch die Andreas Reimann Gesellschaft.

Publiziert wurde gerade der fünfte Band.

Andreas Reimann: Das große Sonettarium. Gedichte 1975-2019
Band 5 der Andreas Reimann Werke, 184 Seiten
ISBN: 978-3-937799-93-3

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 06. November 2021 | 19:05 Uhr