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"meine Faust"Über die Rolle von Mutterschaft: Leipziger Autorin Sibylla Vričić Hausmann veröffentlicht Gedichtband

von Jörg Schieke, MDR KULTUR-Literaturkritiker

08. Januar 2023, 04:00 Uhr

In ihrem neuem Gedichtband erkundet die Leipziger Autorin Sibylla Vričić Hausmann weibliche Lebensentwürfe und blickt besonders auf die Rolle von Müttern und Töchtern. Die Lyrik und Kurzprosa in "meine Faust" sind fantasievolle Textgewebe, in denen verschiedene Sprechweisen entfaltet werden und auch Wut eine zentrale Rolle spielt. Sibylla Vričić Hausmann hat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert und legt nach ihrem Debüt "3 Falter" nun ihren zweiten Gedichtband vor.

Manchmal beschreibt ein Buch oder auch ein einzelnes Gedicht eine konkrete Konstellation im Leben seiner Verfasserin: Dieses und jenes konnte nur so formuliert und gefunden werden, weil eben die Autorin, dank ihrer eigenen Situation, auf genau diese und jene Bildwelten, Fragen und Antworten stoßen musste.

Rolle der Mutter als zentrales Thema der Gedichte

Beim neuen, zweiten Gedichtband von Sibylla Vričić Hausmann könnte es sich so zugetragen haben, denn trotz ihres spielerischen und immer entgrenzenden Umgangs mit Welt und Sprache – es ist doch so etwas wie ein thematischer Kern aus diesem Gedichtband herauszulesen: Die eine Rolle, die Rolle der Mutter, zwingt immer wieder jene Erinnerungen hervor, in denen die heutige Mutter selbst Kind war und die Welt eben aus der gegenüberliegenden Perspektive, der der Tochter, der selbst noch Suchenden, befragt hat.

ich wurde einmal geboren. doch ich war meinen Müttern nicht schön genug für die Liebe. meine Mütter schämten sich meiner. sie fürchteten um meine Zukunft. ohne Schönheit könnte meine Zukunft nicht schön sein. ich kratzte mich und meine Mütter waren schön. aber alterten schlecht.

Sibylla Vričić Hausmann, Autorin | "meine Faust"

Das ist der Eröffnungstext – ein auf Dialog und Verständlichkeit angelegtes Erzählgedicht, dem die Autorin in anderen Kapiteln dann auch verspieltere, weniger geradlinig angelegte Texte gegenüberstellt.

Lyrik hinterfragt Männlichkeit und Effizenz der Gesellschaft

Eben dieses Zusammendenken von Mutter- und Tochterrolle gibt diesem Buch an vielen Stellen seinen entscheidenden Impuls. Sibylla Vričić Hausmann, darin ist sie eine ganz zeitgenössische Autorin, schreibt sich über ihre Gedichte und in der Anrufung auch anderer Autorinnen (Gertrud Kolmar, Annette von Droste-Hülshoff, Sappho) weiter zu einem Essay über weibliche Lebensentwürfe, denen die Pflicht zur Mutterrolle mitgegeben, die Freiheit einer Existenz als Autorin hingegen aberkannt wird. "wo ist deine Wut" – so ist dieser Aufsatz überschrieben, der die in den letzten Jahren immer heftiger attackierte Ordnung einer auf Männlichkeit und Effizienz zugerichteten Gesellschaft einmal mehr hinterfragt.

Wie kann ich rechtfertigen, dass ich mein Leben mit Lesen und Schreiben verbringe?

Sibylla Vričić Hausmann, Lyrikerin | "meine Faust"

Ausschnitte aus dem Aufsatz "wo ist deine Wut"

Ich verspüre den täglichen Auftrag, die Wut (und das Begehren) von mir fernzuhalten. Ich kenne ihn schon aus Mädchentagen, doch noch nie wurde er so explizit und einstimmig an mich gestellt.

Wie kann ein Text zwischen einer mütterlichen und einer erotischen Lesart changieren, ohne sich zu verunmöglichen? Wie kann ich rechtfertigen, dass ich mein Leben mit Lesen und Schreiben verbringe? 

Dem ist, als Fragestellung und persönlicher Befund, gewiss nicht zu widersprechen. Als nüchterner Programm-Text wirkt dieser Aufsatz allerdings ein wenig wie ein Fremdkörper in dieser Sammlung – und präzisiert somit, was in den Gedichten nur angedeutet oder umspielt wird.

Leipziger Lyrikerin Sibylla Vričić Hausmann erkundet das Ich

Denn das, diese in den Gedichten oder in der Kurzprosa bis in die einzelne Zeile hinein gestaltete Offenheit, das Hin und Her zwischen grüblerischer Ich-Erkundung und klarsichtigem Blick in die Welt, zwischen leicht und schwer, komisch und traurig, macht doch den größten Reiz dieser Texte aus.

Der neue Gedichtband "meine Faust" der Leipziger Dichterin ist im Verlag kookbooks erschienen. Bildrechte: kookbooks

Man muss noch nicht einmal zu den Lyrik-Spezis gehören, um sich in diese fantasievollen Textgewebe vollends einzulauschen. Beständig variiert Sibylla Vričić Hausmann verschiedene Sprechweisen und findet immer wieder den Faden, der das alles zusammenhält. Am besten gelungen vielleicht in dem Kapitel "Manifest des weichen Steins".

Ausschnitt aus dem "Manifest des weichen Steins"

… das waren die guten frühen Tage bei Regen krochen wir unter einen Wagen mit rostenden Bolzen. jeder einzelne Tropfen sprach ein vergessenes Verbrechen in die Plane, eins dieser abstrusen. wir hörten weg waren seltsam gelöst, schätzten uns ab. man liebte sich damals nicht. Liebenswürdigkeit das wussten wir, war ein begehrtes Spielzeug, das schnell unter Möbeln verschwand.

In Passagen wie diesen – und es gibt viele davon – wächst, über die Erinnerung an eine Kindheitsszene, eine ganze poetische Versuchsanordnung zusammen. Der rostende Bolzen am Wagen und jene unerhörte Behauptung "man liebte sich damals nicht" provozieren und befeuern sich gegenseitig. Das Buch "meine Faust" entfaltet aus solchen poetischen Möglichkeiten seine Kraft und seinen Eigensinn.

Angaben zum BuchSibylla Vričić Hausmann: "meine Faust"
Gedichte
Verlag kookbooks, 2022
80 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-948336-16-5

Redaktionelle Bearbeitung: Lilly Günthner

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 08. Januar 2023 | 14:15 Uhr