Der Leipziger Maler und Grafiker Professor Werner Tübke im Jahr 1991
Werner Tübke wurde 1929 in  Schönebeck (Elbe) geboren und starb 2004 in Leipzig. Archivbild von 1991. Bildrechte: picture-alliance / ZB | Waltraud Grubitzsch

Buchtipp Was die Briefe von Werner Tübke über den Leipziger Maler verraten

12. Oktober 2021, 07:45 Uhr

Wie die Öffentlichkeit spätestens seit der Veröffentlichung 2018 weiß, war der Leipziger Maler Werner Tübke ein ausdauernder Tagebuchschreiber. Der Schluss, dass Tübke auch leidenschaftlich Briefe schrieb, liegt nahe, wie die jetzt auch frisch vorliegende Erstausgabe mit dem Titel "Wer bin ich?" unter Beweis stellt: Das Buch beinhaltet Briefe Tübkes an seinen Freund, den FAZ-Kunstkritiker Eduard Beaucamp.

"Lieber Eduard, … was Du schreibst ist wunderbar formuliert, aber es ist völlig falsch … Bei der Arbeit denke ich rein technologisch und lasse mich vom Deutschlandfunk unterhalten. … Da ist keine Ironie, kein Gaukler, kein Transvestit! Nur weil ich oft ausgefragt werde, liefere ich solche Vokabeln." – Als Werner Tübke diese Zeilen im Juni 1995 verfasst, hatte ihn sein langjähriger Freund, der einflussreiche FAZ-Kunstkritiker Eduard Beaucamp, um eine, Zitat, "ehrliche Stellungnahme" zu einem von ihm verfassten Katalogtext gebeten.

Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: "Lieber Werner, … wir Schreiber suchen nach … Metaphern … und Sprachbildern, um Dein zweifellos äußerst rätselhaftes Werk lesbar zu machen. Es ist Vermittler-Pech, dass alle diese Vokabeln und Begriffe nicht treffen, obwohl ihnen Deine Bildtitel Nahrung und eine gewisse Stützung geben."

Ein bitterer Wort- und Briefwechsel, den die beiden sich da liefern, wenn man weiß, dass Werner Tübke Eduard Beaucamp sehr viel zu verdanken hat. Über die Anerkennung im westlichen Ausland – die auf begeisterten FAZ-Artikeln Beaucamps fußt – konnte sich der begabte Leipziger Maler Anfang der 70er-Jahre mit seinen Italienbildern schließlich gegen die Verfechter des "Sozialistischen Realismus" durchsetzen, stieg gar zum Rektor der Leipziger Kunsthochschule auf.

Verschwommene Silhouette einer Frau, die an einem zeitgenössischen Gemälde mit biblischen Szenen zum Jüngsten Gericht vorbei geht.
"Jüngstes Gericht" (1983) von Werner Tübke. Sein Stil fand Anleihen bei Renaissance und Manierismus. Bildrechte: picture alliance/dpa | Peter Endig

Formalismus-Vorwürfe

Bevor Eduard Beaucamp die Wende in Werner Tübkes Leben herbeischrieb, musste der Maler zweimal wegen Formalismus-Vorwürfen die Leipziger Kunsthochschule verlassen; die Anwürfe der DDR-Kunstkritik, ob seines "altmeisterlichen, manieristischen, surrealistischen und eklektizistischen Stils" nahmen existenzbedrohende Züge an. Nachdem dies durchgestanden war, beauftragte die DDR Werner Tübke schließlich mit dem monumentalen Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen.

Viel Kritik und Anfeindungen mussten Maler und Museum jedoch nach dem Mauerfall über sich ergehen lassen. Und so deutet die Weimarer Kunsthistorikerin Annika Michalski Werner Tübkes Absage an seine und Beaucamps Fähigkeiten per Brief als psychischen Zusammenbruch.

1995 nahm die Demontage von DDR-Künstlern im westdeutschen Feuilleton erst an Fahrt auf. Da konnte auch Eduard Beaucamp nur bedingt vermitteln, dass Werner Tübke zeitlebens mit der sozialistischen Ideologie um seinen Malstil gerungen hatte. Annika Michalski hat Werner Tübkes Briefe gemeinsam mit dem Kulturwissenschaftler Matthias Bormuth herausgeben.

Aus "Wer bin ich?"

"Wenn Tübke sein eigenes "Ich" infrage stellt und seinem guten Freund, mit dem er eng verbunden ist, sagt: "Es ist alles falsch.", ist das auch ein Resultat des deutsch-deutschen Bilderstreits, der so genannten "Arschlochdebatte", ausgelöst von Georg Baselitz, der gesagt hat: "Ihr habt euch zu Akteuren der Ideologie gemacht!".

Und Tübke, der vorher viele Selbstportraits gemalt hat, verändert sein Werk, in dem er sich selbst aus den Selbstportraits herausnimmt. Die Kunstgeschichte hat hierfür einen schönen Begriff: "Selbstbildnis ohne Bildnis oder ohne Selbst."

Annika Michalski, Weimarer Kunstwissenschaftlerin und Mitherausgeberin des Bandes, in ihrer Betrachtung darüber, warum Tübke nach 1989 kaum noch Selbstporträts malte.

Tübkes und Beaucamps Briefe von 1972 bis 1995

Eduard Beaucamp bei einem FAZ Symposium im Jahr 2008
Eduard Beaucamp, Jahrgang 1937, im Jahr 2008. Bildrechte: IMAGO / Christian Thiel

Dass Eduard Beaucamp immer noch in Sachen Werner Tübke zu vermitteln versucht, zeigt die Herausgabe von Tübkes Briefen an ihn. Schade, dass nur ein Briefwechsel zwischen beiden erhalten ist, ansonsten sind nur Tübkes Briefe zu lesen. Man hätte gern gewusst, was Beaucamp seinem Freund erwiderte. Vielen als strenge Persönlichkeit in Erinnerung, offenbaren die Briefe von 1972 bis 1995 große Zweifel ihres Schreibers an sich und den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen.

Golo Mann, Annika Michalski, Eduard Beaucamp

Da Werner Tübkes Briefe allein zu einem unterhaltsamen Buch nicht getaugt hätten, wurden dazu unter anderem Golo Manns Betrachtung des Bauernkriegspanoramas von 1987 beigegeben, eine Betrachtung von Annika Michalski zu der Frage, warum Werner Tübke nach '89 kaum noch Selbstportraits malte und schließlich als Auftakt ein wunderbar, spannend und romantisch zu lesender Essay von Eduard Beaucamp, wie er einst als FAZ-Feuilletonist während des Kalten Krieges im anderen Deutschland erst Werner Tübke und schließlich eine ganze Malschule entdeckte, die der "Leipziger Schule", gar in erster und zweiter Generation. Ob Beaucamp bei seiner tollen Geschichte nicht auch fabuliert hat, wie es großen Feuilletonisten durchaus zugestanden wird, mögen noch lebende Zeitzeugen und Kunsthistoriker prüfen.

Angaben zum Buch Werner Tübke: "Wer bin ich?"
Briefe an einen Freund mit Essays von Eduard Beaucamp und Golo Mann

Herausgegeben von Matthias Bormuth und Annika Michalski unter Mitarbeit von Malte Maria Unverzagt

Erschienen im Wallstein Verlag
224 Seiten, mit farbigen Abbildungen, gebunden, 22 Euro
ISBN: 978-3-8353-3926-2

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 12. Oktober 2021 | 11:15 Uhr