Ein lächelnder junger Mann mit Mütze und Brille, im Hintergrund ein Plattenbau und eine große Faust
Mit seinem Debüt-Roman "Mit der Faust in die Welt schlagen" legte Lukas Rietzschel einen Bestseller hin und avancierte zum Ost-Erklärer. Jetzt ist ein Porträt des jungen Autors aus Görlitz in der ARD-Mediathek zu sehen. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk

In der ARD-Mediathek Doku: Wie der Görlitzer Autor Lukas Rietzschel an Grenzen geht

27. April 2023, 15:53 Uhr

Der Görlitzer Schriftsteller Lukas Rietzschel ist 28 Jahre alt und hat schon zwei Romane mit Bestseller-Status vorgelegt: "Mit der Faust in die Welt schlagen" und "Raumfahrer". Beide beschäftigen sich mit den Verwerfungen nach der Wende 1989. Er wollte sie selber verstehen und wurde so zum Ost-Erklärer, bei Lesungen oder in Talkshows wie bei Markus Lanz. Mit Uwe Tellkamp debattierte Rietzschel Aufsehen erregend über die Grenzen der Meinungsfreiheit. Wo die für ihn liegen, auch das ergründet die Doku "Lukas Rietzschel – Der Grenzgänger", wie Filmemacher Matthias Schmidt im Interview erklärt.

MDR KULTUR: Warum haben Sie Ihren Film über den jungen Schriftsteller Lukas Rietzschel eigentlich "Der Grenzgänger" genannt?

Matthias Schmidt: In einem unserer Interviews sagt Lukas Rietzschel den Satz: "Dazwischen-Sein ist nicht so einfach." Und er ist tatsächlich in vielerlei Hinsicht dazwischen: Er lebt am Rande, also an der deutsch-polnischen Grenze in Görlitz. Dennoch hat er deutschlandweit Erfolg. Das ist ungewöhnlich in der Literaturszene. "Spiegel-Bestseller-Autor" steht inzwischen auf seinen Büchern, das will schon was heißen. Erst recht für einen, der um diese Grenze zwischen Stadt und Land weiß und sich immer wieder damit beschäftigt.

Dann gehört er einer Generation an, die bereits im Westen geboren wurde. Er ist Jahrgang 1994, wird aber nicht müde, sich für den Osten und seine Entwicklung zu interessieren und auch zu engagieren. Das spielt im Film eine große Rolle. Was die Generationen seiner Eltern und Großeltern nach der Wiedervereinigung erlebt haben, erleben mussten, muss man teilweise sagen. Das treibt ihn sehr um. Immer wieder handeln seine Texte davon, und dabei stößt er dann auch an eine weitere Grenze. Denn er beschäftigt sich auch mit der Frage, warum sich gerade hier im Osten viele Menschen radikalisiert haben, sich von der Gesellschaft abwenden.

Dazwischen-Sein ist nicht so einfach.

Lukas Rietzschel In der Doku "Lukas Rietzschel - Der Grenzgänger"

Und dabei geht er eben auch bis an die Grenze, erzeugt viel Verständnis bis an die Grenzen der Toleranzfähigkeit, sagt er selbst zum Beispiel in seinem Theaterstück "Widerstand". Um all das geht es in dem Porträtfilm "Der Grenzgänger".

Zur Person von Lukas Rietzschel

Rietzschel wurde am 16. März 1994 in Räckelwitz geboren und wuchs in Kamenz auf. Er studierte Politikwissenschaft, Germanistik und Kulturmanagement in Kassel und Zittau/Görlitz.

Schon Rietzschels erster Roman "Mit der Faust in die Welt schlagen" erregte 2018 Aufmerksamkeit. Er erzählt darin eine Familiengeschichte von Wendeverlierern und Rechtsradikalen. Mit dem Stück "Widerstand" – entstanden im Auftrag des Leipziger Schauspiels – und dem Roman "Raumfahrer" setze er seine Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart fort.

2022 bekam er den Sächsischen Literaturpreis, der mit 10.000 Euro dotiert ist. 2023 wird er Stipendiat der Villa Aurora in Los Angeles sein.

Ein lächelnder junger Mann mit Mütze und Brille im Hintergrund ein Plattenbau und eine große Faust 6 min
Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk

Ich erinnere mich an einen hochspannenden Abend im März in der Dresdner Frauenkirche, da traf Lukas Rietzschel auf seinen Schriftsteller-Kollegen Uwe Tellkamp, um dort als sein Antipode über die Grenzen der Meinungsfreiheit zu diskutieren. Spielt der Abend in dem Film eine Rolle?

Wir haben Lukas Rietzschel über mehrere Monate immer wieder begleitet. Auf Lesungen in Franken, bei Theaterpremieren in Leipzig und Bautzen, bei den Dreharbeiten der Verfilmung seines ersten Romans "Mit der Faust in die Welt schlagen" in Görlitz – und wir waren eben auch bei der Diskussion mit Uwe Tellkamp. Auch dabei geht Lukas Rietzschel an die Grenzen.

Er hat es, wie ich mit Bewunderung sagen muss, geschafft, mit seinen gerade einmal 28 Jahren nicht nur in dieser schwierigen Debatte mit Uwe Tellkamp zu bestehen, sondern ruhig und geduldig und mit großartiger Rhetorik dazu verholfen, dass es wirklich eine Debatte wird und dieser Abend nicht eskaliert. Und das war nicht leicht.

Uwe Tellkamp hatte ja, wie sich manche erinnern werden, fertige Reime als Antworten mitgebracht. Und wie sie zeigen, hat er sich in seiner Rolle als Polarisierer durchaus eingerichtet. Und Lukas Rietzschel, das wird im Film ausführlich zu erleben sein, hat dort bestanden. Er war sehr aufgeregt. Auch das wird man erleben.

Ist der Film auch ein privates Porträt von Lukas Rietzschel?

Wir waren sehr nah dran an Lukas Rietzschel, und ich denke, dass man das in dem Film immer wieder spüren kann. Nicht nur in diesem Moment, sondern immer mal wieder. Beispielweise auch auf einer Lesereise, die er bestreitet: Nach einem unendlich langen Tag steigt er in einem fränkischen Gasthof ab und erzählt uns dort, dass er am Anfang seiner Karriere als Schriftsteller extrem glücklich war über diese Hotelaufenthalte. Ja, das war so etwas Besonderes. Es war ein Abenteuer. Und es gab Rührei zum Frühstück. Mittlerweile kann er das alles eigentlich nicht mehr sehen, auch nicht das Rührei, obwohl es ihm Spaß macht, bei den Lesern zu sein, mit ihnen zu sprechen. Da ist er wirklich voller Leidenschaft.

Abgesehen davon haben wir gemerkt, dass es auch kein leicht verdientes Geld ist, diese Lesereisen. Er reist da von Görlitz nach Ochsenfurt in Franken. Da musste er fünfmal umsteigen. Er war zwei ganze Tage unterwegs für ein nicht eben üppiges Honorar. Und so toll war das Hotel dann auch nicht. Lukas Rietzschel schildert das sehr ehrlich, immer auch humorvoll, und das ist, wie ich finde, schon auch sehr privat.

Was zählte neben dem Abend der Debatte von Lukas Rietzschel mit Uwe Tellkamp zu Ihren besonderen Eindrücken während der Dreharbeiten?

Grundsätzlich erstmal finde ich, dass Lukas Rietzschel ein erstaunlicher Autor ist. Er hat das zuletzt wieder bewiesen mit seinem Roman "Raumfahrer". Es geht darin parallel um die Gegenwart und um die Biografie des sächsischen Malers Georg Baselitz, den man im Westen als einen der großen Künstler der Bundesrepublik kennt und schätzt, der aber eigentlich eine Ost-Biografie hat. Und das greift Rietschel auf. Großartig.

Außerdem hat mich beeindruckt, wie er medial besteht. Etwa in einer Talkshow bei Markus Lanz im ZDF, wo er in einer Runde saß mit Karl Lauterbach und dem damaligen Ostbeauftragten der Bundesregierung, Marco Wanderwitz. Er hat sich dort mit Wanderwitz richtig angelegt, und zwar, als es um die Frage der Ost-Sozialisation ging. Er hat Wanderwitz widersprochen und darauf verwiesen, dass seiner Meinung nach die Verwerfungen nach der Wiedervereinigung, also die Umbrüche, die so viele Menschen hier zu erleben und zu bewältigen hatten, in größerem Maß dazu beigetragen haben, dass eben ein gewisser Frust herrscht, dass viele sich auch abwenden, zum Beispiel von den klassischen Volksparteien.

Und und da habe ich ihn wieder entdeckt, den Grenzgänger, der eben findet: Man muss das aushalten. Man muss das thematisieren. Man darf niemanden ausschließen aus der Gesellschaft bis eben an die Grenzen der Toleranzfähigkeit. Mit Lukas Rietzschel gemeinsam etwa hinter die Kulissen dieses Lanz-Gespräches zu schauen, indem er für mich als eine Art Ostbeauftragter der Herzen auftrat und wirkte, das fand ich sehr spannend. Auch das wird im Film zu erleben sein.

Das Gespräch führte Moderatorin Julia Hemmerling für MDR KULTUR. Redaktionelle Bearbeitung: Katrin Schlenstedt

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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 27. April 2023 | 08:45 Uhr