Ost-West-Diskurs Für Lukas Rietzschel rutscht das Thema Osten langsam in den Hintergrund

Geboren in Räckelwitz in der Oberlausitz, lebt Lukas Rietzschel heute in Görlitz. Seine beiden Romane "Mit der Faust in die Welt schlagen" und "Raumfahrer" sind Bestseller und bescherten ihm das Attribut "Ost-Erklärer". Zuletzt wurde sein Theaterstück "Widerstand" in Leipzig uraufgeführt, sein Debüt-Roman wird zurzeit verfilmt. Vladimir Balzer hat den Schriftsteller zum Gespräch über den Atlantik getroffen, denn Rietzschel ist gerade Stipendiat der Villa Aurora in Los Angeles.

Der Schriftsteller Lukas Rietzschel
Die Wochenzeitung DIE ZEIT schreibt über ihn: "Lukas Rietzschel gehört zu den wichtigsten jungen Schriftstellern des Ostens." Bildrechte: MDR / Patrick Schwarz

Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sich Lukas Rietzschel in der Villa Aurora in Los Angeles. Während eines Stipendiums hat er dort die nächsten Wochen Gelegenheit, an seinem neuen Roman zu arbeiten. Er verrät, dass es eine große, aus verschiedenen Perspektiven erzählte Familiengeschichte wird. Die Geschichte spiele wieder in der seiner Region, aber in der Gegenwart und die momentane Distanz von tausenden Kilometern und einer anderen Zeitzone würden ihm helfen, seinen Ort und seine Herkunft mit Abstand zu betrachten.

Debatte um Oschmann und Döpfner

Denn gerade wieder dreht die Ost-West-Diskussion neue Runden: Dirk Oschmann, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig, macht Furore mit seinem Sachbuch "Der Osten: eine Erfindung des Westens" und Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner beschimpfte in geleakten Chatnachrichten und Mails ostdeutsche Menschen und schlug unter anderem vor, "aus der ehemaligen DDR eine Agrar- und Produktionszone mit Einheitslohn zu machen".

Je nach Kontext verteidige ich den Osten oder beschwere mich über ihn, ist doch klar. Ich erlebe mich manchmal in einem schizophrenen Zustand. Und mir wäre es manchmal auch lieb, mich nicht über den Osten auseinandersetzen zu müssen. Aber das gehört zu meiner Geschichte, zur Geschichte meiner Eltern und zu dem Ort, an dem ich lebe.

Lukas Rietzschel, Schriftsteller

Rietzschel empfindet die Ost-West-Diskussion als antiquiert

Beim Schreiben seines neuen Romans sei das Ost-Thema und alles, was die DDR explizit betrifft, weiter nach hinten gerutscht, sagt Lukas Rietzschel. Umso erschrockener sei er gewesen, als er das Buch von Dirk Oschmann gelesen habe. Für ihn sei das eigentlich schon fast eine antiquierte Debatte. Er beschäftige sich seit Jahren damit, wie der Osten reproduziert werde und wie der Osten sich selbst produziert.

Wenn er sich umschaue, sehe er vor allem junge Menschen, die sich stark machen und sich engagieren. Zu den Äußerungen Döpfners meint Rietzschel, dass er bei Lesungen im westlichen Teil Deutschlands auch oft Kommentare höre wie: "Die Ossis können das nicht, die schaffen das nicht, die sind unfähig" – oft in der pauschalisierenden Gruppenzuschreibung. Offenbar sei die Gesellschaft doch noch nicht so weit in dem Sich-Auseinander-Setzen mit dem Osten.

Blick auf die Vergangenheit für die Gegenwart

Doch, auch wenn er jetzt ein Buch schreibe, das in der Gegenwart spielt, muss er, um Personen und deren Geschichte zu erzählen, die zurückliegende Zeit thematisieren, vor allem die unmittelbaren Nachwendejahre.

Ich habe das Gefühl, die Intensität, die ich die letzten Jahre hatte, auch gerade mit dem 'Raumfahrer', wo ich ganz klar in der DDR geschrieben habe und über die DDR und meine Figuren dorthin gesetzt habe, das verschiebt sich gerade.

Lukas Rietzschel, Schriftsteller

Mangelnde Wahrnehmung einer engagierten Zivilgesellschaft

Das, was Oschmann und Döpfner beschrieben, sei nicht sein Osten, sagt Rietzschel. Er überlege, dass hinter diesen Konflikten möglicherweise mehr eine Generationsfrage stecke als eine Ost-West-Problematik. Er bedauere, dass die ganzen Bemühungen der Zivilgesellschaft, die auch noch im letzten kleinen Kaff Bürgerinitiativen und Vereine gründet, nicht im Westen ankommen. Aber vielleicht habe er seinen Osten fortschrittlicher gesehen, als dieser im Westen wahrgenommen werde.

Mein Osten ist ein sehr pragmatischer Osten. Das sind all diese kleinen Initiativen, die sich gründen.

Lukas Rietzschel, Schriftsteller

Gerade im künstlerischen Bereich gäbe es so viel. Zum Beispiel das Festival in Bitterfeld-Wolfen, das sich auch "Osten" nennt, oder jemand wie Martin Maleschka in Eisenhüttenstadt, der sich mit baubezogener Kunst auseinandersetzt und versucht, die Architektur der DDR wieder rauszuholen oder die Wiederentdeckung von Brigitte Reimann – immer geht es um das Über-Sich-Selbst-Nachdenken: Was war das, diese DDR, was war das in den letzten 30 Jahren nach der Wiedervereinigung, was sagt das über Demokratie.

Rietzschel interessiert die Nachwendezeit und junge Demokratie

Es mache ihn irgendwie stolz, zu sehen wie pragmatisch die Leute im Osten teilweise mit den nicht in Erfüllung gegangenen Träumen der letzten 30 Jahre umgehen. Man lebe in einer fragilen Gesellschaft, die sich immer wieder versucht neu aufzurichten. Man bewege sich sozusagen im Austausch vorwärts. Seine Auseinandersetzung mit der DDR habe mit dem zu tun, was nach ihr passiert ist, so Rietzschel: Die Brüche in der jungen Demokratie, der Zustand der konstanten Veränderung, das ist es, was ihn interessiere. Die DDR markiert das Davor.

Quelle: MDR KULTUR Café: Lukas Rietzschel im Gespräch mit Vladimir Balzer
Redaktionelle Bearbeitung: Judith Burger

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 23. April 2023 | 12:00 Uhr

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