Literatur-Empfehlung Lukas Rietzschels neuer Roman "Raumfahrer": Von Ostdeutschen, die nie im Heute angekommen sind
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Mit seinem ersten Roman "Mit der Faust in die Welt schlagen" hat sich Schriftsteller Lukas Rietzschel als starke Stimme aus dem Osten etabliert. Nun legt der 27-jährige Görlitzer Autor sein zweites Buch "Raumfahrer" vor. Darin lernt Protagonist Jan seine geheimnisvolle Familiengeschichte kennen, über die sich seine Eltern ausgeschwiegen haben. Ist er mit dem berühmten Maler Georg Baselitz verwandt? Rietzschel gelingt eine komplexe Familiengeschichte vor dem Hintergrund der deutschen Teilung.

Die Geschichte spielt in der Lausitz. Sie beginnt in einem Kleinstadt-Krankenhaus, das kurz vor seiner Schließung steht und einem jungen Mann, Jan, der darin arbeitet. Der Buchtitel "Raumfahrer" ist als Metapher zu verstehen für die Generation von Jans Eltern, die nie so ganz im Westen angekommen zu sein scheint. "Ich bin nicht sicher, ob das Bild für eine ganze Generation stimmt", so MDR KULTUR-Kritiker Matthias Schmidt, "aber auf Jans Eltern trifft es auf jeden Fall zu. Sie sind wirklich zwischen den Welten verloren gegangen."
Für Jan waren sie (seine Eltern, Anm. d. Red.) Raumfahrer. Schwebten in einer Zwischenwelt, ihrem Ausgangspunkt entrissen. Während sie schwebten, hatte sich die Welt schon ein Dutzend Male weitergedreht. … Und Jan stand auf der Erde und richtete sein Fernglas auf sie.
Das Schweigen der Eltern über ihre Biografien
Rietzschel erzählt in knappem, lakonischen Stil. "In seinem Text schwingt eine Traurigkeit mit, die es so wohl nur im Osten gibt", so Schmidt. Und er belässt es nicht bei der Beschreibung dieser ja nicht allzu oft beschriebenen Gegenwart am Rande des Landes, sondern er fügt dem eine historische Ebene hinzu. "Sie verleiht dem Roman einerseits eine deutsch-deutsche Dimension und andererseits zugleich der Handlung mehr Komplexität", so der Kritiker.
Da steckt alles drin, was die jüngere deutsche Geschichte zu bieten hat: der Mauerbau und die Trennung zweier Brüder, die Staatssicherheit und ihre destruktive Energie, die sogar Familien zerstört. Ebenso die Unfähigkeit vieler Menschen, über ihre Rolle in dieser vertrackten DDR- Geschichte zu sprechen. "Es gab diese Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ja auch schon in "Mit der Faust in die Welt schlagen", aber hier wird das Schweigen der Eltern über die DDR ganz konkret zum Thema."
Geheimnisvolle Familiengeschichte mit berühmter Verwandtschaft?
Jan arbeitet in einem kurz vor der Schließung stehenden Krankenhaus und wird von einem Mann im Rollstuhl, genannt "der Alte", angesprochen: er habe etwas, das ihn interessieren würde. Schritt für Schritt erfährt man mit Jan, dass die Unterlagen des "Alten" Jans eigene Familiengeschichte betreffen. Er geht auf Entdeckungsreise, und mit ihm lernt man beim Lesen die Lebensgeschichte von Georg und Günter Kern kennen. Diese Geschichte ist eine prominente, denn Georg Kern ist der bürgerliche Name des berühmten Malers Georg Baselitz. Baselitz hat sich diesen Künstlernamen gegeben, weil er aus Deutschbaselitz stammt, einem Dorf bei Kamenz, in dem Jan in seiner Kindheit oft war und das auch Lukas Rietzschel gut kennen dürfte.
Georg Baselitz verließ die DDR, sein Bruder Günter Kern wollte ihm folgen, musste aber nach dem Mauerbau im Land bleiben. Er stand unter intensiver Beobachtung der Stasi, die sogar versuchte, seine Ehe zu zerstören, indem sie eine Inoffizielle Mitarbeiterin auf ihn ansetzte. Diese Frau war Jans Mutter. Es kommt die Frage auf, wer sein Vater ist – ist er der Neffe von Georg Baselitz?
Roman als raffinierte, ostdeutsche Milieustudie
Eines der Dramen des Romans ist die Geschichte von Jans Mutter, die im neuen Deutschland offenbar völlig aus der Bahn geriet, schwer alkoholkrank wurde und schließlich stirbt, ohne ihrem Sohn von ihrer Geschichte erzählt zu haben. "Lukas Rietzschel verknüpft die Ebenen raffiniert, die Lektüre ist also zugleich eine ostdeutsche Milieustudie und ein sich langsam füllendes Puzzle-Bild", lobt Kritiker Matthias Schmidt.
Das ist wieder fabelhaft erzählt, großartig changierend zwischen Humor, Resignation und Wut.
Rietzschel gelingt eine komplexe Familiengeschichte vor dem Hintergrund der deutschen Teilung, es ist eine vielschichtige Story. Für den Kritiker bleibt die gelungenste Ebene des Romans dennoch die Gegenwart der "Raumfahrer", der schwebenden Menschen, die sich vom neuen Land nicht richtig angenommen fühlen, die sich fragen, wie die Politiker das mit dem "Anerkennen der Lebensleistung" umsetzen könnten. Ob man sich da jetzt einen Stempel abholen könnte. "Das ist wieder fabelhaft erzählt, großartig changierend zwischen Humor, Resignation und Wut."
Angaben zum Buch
Lukas Rietzschel: "Raumfahrer", Roman
erschienen im Verlag dtv
287 Seiten, 22 Euro
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | "Unter Büchern" | 21. Juli 2021 | 18:20 Uhr