Matthias Jügler im Gespräch zu "Die Verlassenen" Warum die Nachwende-Generation jetzt zum Thema Stasi schreibt

Der hallesche Autor Matthias Jügler lässt seinen Roman "Die Verlassenen" u.a auf einem realen Stasi-Fall basieren. Er selbst hat diese Zeit gar nicht bewusst erlebt, Jügler wurde 1984 geboren. Was ihn dennoch dazu brachte, zu diesem Thema zu schreiben, berichtet er im Gespräch mit MDR KULTUR.

Der Schriftsteller Matthias Jügler
Der Schriftsteller Matthias Jügler Bildrechte: Melina Mörsdorf

MDR KULTUR: Der Roman "Die Verlassenen" hat mit einem realen Fall in Halle zu tun. Wie bist du auf diesen Fall gestoßen?

Matthias Jügler: Das ist ungefähr zehn Jahre her. Und es fing damit an, dass ich mit der Tochter von Moritz Götze in einem kleinen Laden in Halle war. Und da war ein ganz supercharismatischer Verkäufer. Der hat einem so gefallen, wenn man ihn so sieht, war witzig und einfach total charismatisch. Und als wir draußen waren, sagte die Freundin von mir "Das war übrigens der IM von meinem Papa." Und ich dachte: Okay, IM, Wow – offensichtlich ist das Thema DDR ja doch noch nicht vorbei. Man denkt, dieses System ist schon ewig lang tot und damit ist jetzt irgendwie genug.

Und dann bin ich zu Moritz Götze nach Hause gegangen und hab mit ihm ziemlich lange gesprochen. Dann hat er mir diese Geschichte erzählt, die sozusagen in den Grundzügen Pate steht für das Buch "Die Verlassenen". Aber mir war es total wichtig, dass ich nicht ins Detail gehe, wem ist da was passiert. Dass ich nicht – also für mich gefühlt, ich bin 84 geboren – ins Private gehe und "Wunden aufreiße". Sondern für mich war klar, ich möchte gern eine universelle Geschichte schreiben über Verrat, verlassen werden – und vielleicht auch verzeihen.

Das Buch wurde wie eine Doku-Fiktion umgesetzt, und man denkt, es ist ein realer Fall. Auch durch diese Fotokopien, die mit dabei sind. Warum hast du diese Form gewählt?

Irgendwann beim Schreiben gab es den Punkt, da war mir klar, okay, ich habe jetzt bestimmte Komponenten der Geschichte erzählt – aber jetzt muss ich dazu kommen (oder möchte ich dazu kommen) zu erzählen, was damals mit den Eltern des Ich-Erzählers passiert ist. Und mir war klar, es gibt verschiedene Möglichkeiten. Ich kann irgendwie nacherzählen, wo die Stasi wie ihre Finger im Spiel gehabt hat. Aber ich dachte mir die ganze Zeit, ich bin dafür nicht der Experte, ich bin 84 geboren, ich habe keine eigenen Stasi-Erfahrungen.

Und habe dann irgendwann begonnen – es gibt die Seite Stasi-Mediathek.de, da kann man im Netz unwahrscheinlich viele Stasi-Akten lesen – und habe dann Tag für Tag Stasi-Akten gelesen. Und mir war dann klar, ich möchte einen Teil der Geschichte erzählen in dieser Form der Stasi-Akten. Denn genau so wurden Geschichten erzählt. Du gehst irgendwohin, liest die Stasi-Akten deines Vaters und es erzählt dir nichts als die Geschichte zu deinem Vater. Also: Was wurde wann gemacht? Wo haben Sie ihn beobachteten, mit wem hat der worüber gesprochen?

Und für mich war das einfach eine Möglichkeit, den Stoff, um den es ja geht, irgendwie besser zu durchdringen. Mich auch irgendwie dem anzunähern, auch diese Sprache zu verstehen. Wie spricht hier eigentlich jemand? Welche Floskeln kommen immer wieder? Und für mich war es ja auch total gut geeignet, um in diesem Roman zu zeigen, wie hat das eigentlich funktioniert und was war eigentlich vielleicht genau das Perfide an diesem System? Das kann man einfach Nachlesen.

Manche sagen, man sollte dieses Kapitel doch mal ruhen lassen und abschließen, das ist doch jetzt vorbei. Geht das überhaupt, ein Geschichtskapitel abzuschließen?

Ich glaube, das ist die ganz natürliche Reaktion, die man hat, wenn man Teil eines Systems war, darunter auch zu leiden hatte. Jetzt ist es über 30 Jahre vorbei und man will da vielleicht endlich den berühmten Schlussstrich ziehen.

Aber das würde wahrscheinlich auch bedeuten, wenn man nicht darüber redet, in welche Richtung es gehen kann, wenn wir einen Staat haben, der autoritär ist, der Andersdenkende unterdrückt. Ich meine, da ist natürlich Tür und Tor offen, das sich genau sowas ziemlich schnell nochmal ereignen wird. Und ich finde es für mich einfach total wichtig, dass man darüber im Gespräch bleibt.

Das ist ja vielleicht auch dieser Roman: ein Gesprächsangebot. Lass uns darüber reden! Wie hast du das eigentlich erlebt? Wie war das bei Dir damals? Und vor allem ist es für mich auch wichtig, dass Leute, die diese Zeit nicht aktiv erlebt haben, vielleicht eine Hilfe bekommen, selber ihre Meinung oder ihre Position dazu zu äußern.

Für mich sind die Akten nicht so schmückendes Beiwerk, sondern ich erzähle mit den Akten etwas, das dieser Johannes, die Figur, nicht erzählen kann. Der kann nicht sagen "Damals hatte mein Vater das und das gemacht, dann kam der und der ..." Das kann auch jemand wie ich, der 1984 geboren ist, nicht wissen. Aber die einzige Quelle, die man hat, wenn man nicht mehr mit diesen Zeitzeugen reden kann, sind diese Akten.

Ich glaube, dass es deshalb auch gar nicht so schlecht sein kann, wenn man sich auch weiterhin mit diesem Thema befasst. Und es ist überhaupt nicht vorbei. Das System ist weg – die Leute mit all ihren Traumata, die sind immer noch da.

Das Gespräch führte Anne Osterloh für MDR KULTUR.

Matthias Jügler: Die Verlassenen
Das Buchcover Bildrechte: Penguin Verlag

Das Buch Matthias Jügler: "Die Verlassenen"
Roman
Hardcover mit Schutzumschlag, 176 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3-328-60161-6
Penguin Verlag

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 08. März 2021 | 07:40 Uhr

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