Rainer Eckert, Historiker und langjähriger Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig
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DDR-Aufarbeitung Kampf ums Erbe von 1989: Warum das Buch eines Leipziger Historikers fast nicht erschienen wäre

08. Juni 2023, 09:09 Uhr

Ob es "die Ostdeutschen" überhaupt gibt, haben zuletzt Dirk Oschmann und Katja Hoyer analysiert. Ihre Bücher über die DDR sind Bestseller. Jetzt legt der Historiker und DDR-Dissident Rainer Eckert, lange Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig, das Sachbuch "Umkämpfte Vergangenheit" vor. Er stellt zur DDR-Aufarbeitung fest: "Die Diskussion drehte sich viel zu lange um Repression, Staatssicherheit und das SED-Unrecht." Schon vor dem Erscheinen geriet er damit in Grabenkämpfe mit ehemaligen Bürgerrechtlern um das Erbe von 1989. Fast wäre seine spannende Analyse nicht erschienen.

Die DDR und kein Ende – wer die Ostdeutschen sind, was aus ihnen in den sogenannten Transformationsjahren seit 1990 wurde und was von den Visionen der Akteure der Friedlichen Revolution blieb, wird in diesen Tagen erneut verhandelt. Dirk Oschmanns "Der Osten, eine westdeutsche Erfindung" und Katja Hoyers in England verfasstes Werk "Diesseits der Mauer" sind Bestseller. Ein anderes Buch mit dem Titel "Getrübte Erinnerungen" erregte großes Aufsehen, bevor es erschien. Geschrieben hat es der Bürgerrechtler und Historiker Rainer Eckert, bis 2015 langjähriger Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig.

Buch von Leipziger Historiker: DDR-Zeitzeugen drohten mit Klagen

Im August 2022 wollte es der Mitteldeutsche Verlag veröffentlichen. Es war gedruckt, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hatte einen Druckkostenzuschuss genehmigt, doch plötzlich drohten mehrere Zeitzeugen und Oppositionelle der ehemaligen DDR mit Klagen. Das Ergebnis: Der Mitteldeutsche Verlag zog die gesamte Auflage zurück, Anwälte übernahmen. Jetzt, neun Monate später, kommt das Buch doch heraus, mit kleineren Änderungen und einem neuem Titel: "Umkämpfte Vergangenheit", allerdings im Leipziger Universitätsverlag.

Das Buch ist die erste umfassende Darstellung der geschichtspolitschen Grabenkämpfe um die SED-Diktatur und ihre Folgen. Eckert, Jahrgang 1950, studierte in der DDR Geschichte und geriet schon in den 70er-Jahren in große Schwierigkeiten. Er wurde politisch verfolgt, erhielt Hausverbot an der Universität und "Berlin-Verbot". Denn er gehörte in den 80er-Jahren zum kleinen Kreis der Oppositionellen, die in der DDR für Rede- und Meinungsfreiheit stritten. Anfang 1990 war Gründungsmitglied der ostdeutschen SDP, der Sozialdemokratischen Partei in der DDR. Dass er jetzt, über 33 Jahre nach der Friedlichen Revolution, beinahe wieder ein Opfer von Zensur geworden wäre, ist ihm unbegreiflich.

Kowalczuk: "Sektenähnliche Zustände in der DDR-Aufarbeitungsszene"

Die Gründe für die Unterdrückung des Buches sind unklar. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk nennt den Vorgang inakzeptabel, er spricht von "sektenähnlichen Zuständen in der Aufarbeitungsszene" und einem Fall von "Cancel-Culture". Eckert hatte aus privater Korrespondenz zitiert, die an ihn gerichtet war.

Einige Akteure wie zum Beispiel Hubertus Knabe meldeten sich beim Verlag, weil sie nicht einverstanden waren mit Darstellung. Eckert kritisierte Knabe schon früh als Gedenkstättenleiter in Berlin-Hohenschönhausen für seine "Überwältigungsstrategie" und "ewige undifferenzierte Schwarzweiß-Malerei".

Der DDR-Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk steht vor einer grauen Wand und lächelt.
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk verteidigt das Buch des Leipzigers Rainer Eckert. Bildrechte: MDR / Katrin Schlenstedt

Buch liefert spannende Analysen zu DDR-Geschichtsschreibung

Dabei ist Eckerts Chronik der Aufarbeitung alles andere als ein Tabubruch. Er zeigt anhand vieler Kontroversen auf, wie vermint, toxisch und unerledigt die DDR-Geschichtsschreibung und ihre Folgen bis heute sind. Er referiert die sich über Jahre hinziehenden Auseinandersetzungen um die Stasi-Akten und den richtigen Umgang mit ihnen. Er widmet sich den bis heute andauernden Streits und Debatten ums Einheits- und Freiheitsdenkmal in Leipzig, um die Gedenkstätte Hohenschönhausen in dem ehemaligen Stasi-Gefängnis, um die Präsentation von DDR-Geschichte im Historischen Museum Berlin, um das Museum "Runde Ecke" und das Lichtfest in Leipzig sowie die Dopingopfer des DDR-Sports. Das ist spannend und lehrreich zu lesen, da viele dieser Diskussionen bisher nur hinter den Kulissen abliefen.

Leipziger Rainer Eckert: "Die Ostdeutschen als Kollektiv gibt es nicht"

Friedliche Revolution oder Wende, Mauersturz oder Mauerfall, "Opferkollektiv" oder Mitläufer – es gibt bis heute in Deutschland keinen erinnerungspolitischen Konsens über den Epochenbruch von 1989. Eckerts Buch führt viele Beispiele und Gründe dafür an. Ein Hauptfehler sei es gewesen, "dass sich die Diskussion viel zu lange und zu intensiv um Repression, Staatssicherheit und das SED-Unrecht drehte".

Die Diskussion drehte sich viel zu lange und zu intensiv um Repression, Staatssicherheit und das SED-Unrecht.

Rainer Eckert Historiker

Eckert betont: "Das waren alles wichtige Themen, aber die Mehrzahl der Ostdeutschen lebte ihren normalen Alltag, und eine starke Minderheit war begeisterter Anhänger der Diktatur." Die Vorherrschaft der westdeutschen Erzählungen über den Charakter der SED-Diktatur hat aus seiner Sicht zu einem Legitimationsverlust bei jenen geführt, die sie erlebten. Die sogenannten Ostdeutschen, sagt Eckert, gebe es gar nicht, ihre ständige Kennzeichnung als "Kollektiv" sei falsch.

Was heute fehle und durch die seit 30 Jahren anhaltende Dominanz der westdeutschen Eliten in Misskredit geraten sei, sei der Stolz auf die Friedliche Revolution. Deren Errungenschaften, Meinungsfreiheit und Demokratie, drohten in Vergessenheit zu geraten.

Redaktionelle Bearbeitung: Katrin Schlenstedt

Ansicht der Stadt Leipzig mit dem Universtätshochaus und einer großen 89 darauf
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Angaben zum Buch Rainer Eckert: "Umkämpfte Vergangenheit. Die SED-Diktatur in der aktuellen Geschichtspolitik der Bundesrepublik Deutschland"
Leipziger Universitätsverlag, 2023
435 Seiten, 40 Euro
ISBN: 978-3-96023-530-9

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | artour | 08. Juni 2023 | 22:05 Uhr