RezensionSachbuch "Nackt in die DDR" spürt dem Leben des Malers Willi Sitte nach
"Lieber vom Leben gezeichnet als von Sitte gemalt!" Dieser Ausspruch wird oft zitiert, wenn es um den DDR-Maler Willi Sitte geht. In Merseburg erinnert die Willi Sitte Galerie an ihn. Vor einigen Jahren hat eine große Retrospektive in Halle seinem Werk viele neue Facetten abgewonnen. Und nun erzählt das Sachbuch "Nackt in die DDR" das Leben von Sitte und seiner Familie aus einem bisher unbekannten Blickwinkel: aus dem seines Urgroßneffen Aron Boks. Neben der aufwändigen Recherche beeindruckt Boks' vorurteilsfreier Blick auf die DDR. Eine Kritik.
Das will so gar nicht zur Familie Sitte passen. Aber der Autor Aron Boks, 1997 in Wernigerode geboren und der Urgroßneffe des Malers Willi Sitte (1921–2013), möchte partout nicht nackt in der Ostsee baden. Dabei war sein berühmter Verwandter von den FKK-Stränden der DDR begeistert. Hier konnte er Menschen in jedem Alter studieren und diese Eindrücke in seinen Bildern verarbeiten.
Boks aber ist nicht in der DDR aufgewachsen und in den Erzählungen seiner Eltern hat das untergegangene Land auch keine große Rolle gespielt. Neugierig wird er, als die Großmutter eines Tages ein Bild auf den Küchentisch legt: "Die Heilige Familie" von Willi Sitte. Zu sehen ist eine Reihe altmeisterlich gemalter Figuren – Mutter, Vater, Großeltern und Kind mit Vieh. Plötzlich, schreibt Aron Boks, gibt es Willi. Einen Mann, der in der Familie bislang eher wie ein Begriff aus dem Kunst-Lexikon und nicht wie ein Verwandter erwähnt wurde.
Ähnlich wie Lukas Rietzschel in seinen Romanen beeindruckt Aron Boks durch seinen offenen und vorurteilsfreien Blick auf die jüngere Geschichte.
Tino Dallmann, MDR KULTUR-Literaturkritiker
Hinreißend recherchiert und erzählt – nach der Methode Sitte
Wie sich Boks daraufhin in die Recherche stürzt, ist hinreißend erzählt: Er interviewt seine Familie und liest die Memoiren seiner Verwandten. Außerdem interviewt er ehemalige Schüler von Willi Sitte ebenso wie einen IM der Stasi, der ihn beschattet hat. Dieses Erzählen aus dem eigenen Erleben, hält ein Filmemacher fest, ist der Arbeitsweise von Willi Sitte nicht unähnlich.
Auf diese Weise entsteht zunächst ein Familienporträt von Aron Boks Urgroßvater und dessen bekanntem Bruder. Während Franz Sitte in den frühen Jahren der DDR in Wernigerode einen Betrieb aufbauen und Männer für die Wismut werben soll, feiert Willi Sitte Erfolge als Maler und wird Dozent an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle.
Neben der Familiengeschichte erzählt Aron Boks auch eine Geschichte der DDR von der Gründung bis zu ihrem Ende 1990. Natürlich handelt sein Buch dabei von Privilegien und Macht, schließlich wird Willi Sitte später Präsident des Künstlerverbandes der DDR und damit einer der einflussreichsten Kulturfunktionäre des Landes.
Hier den Beitrag von Tino Dallmann hören:
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Wie an vielen Stellen in seinem Buch legt Aron Boks auch hier die Ambivalenzen der Lebensläufe frei, die er nacherzählt. So zählten Künstler dank der Lobbyarbeit von Willi Sitte zwar zu den privilegiertesten Personen in der DDR, der Verbandspräsident kümmerte sich aber auch um sein eigenes Wohl. Er stellte einen böhmischen Koch an und ließ italienische und spanische Weine im Keller der Verbandsvilla einlagern.
Ähnlich wie Lukas Rietzschel in seinen Romanen beeindruckt Aron Boks durch seinen offenen und vorurteilsfreien Blick auf die jüngere Geschichte. An vielen Stellen erklärt sein Buch Grundlegendes über die DDR. Es ist somit nicht nur ein spannend zu lesender Bericht über eine prominente DDR-Familie, sondern lädt alle Generationen ein, sich auf ähnlich unvoreingenommene Art mit der eigenen Geschichte zu befassen.
Informationen zum Buch:
Aron Boks: "Nackt in die DDR – Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat"
Verlag: HarperCollins
erschienen am 21. Februar 2023
400 Seiten, gebunden
ISBN: 9783749905584
24 Euro
Lesungen mit dem Autor:
am 27. April, 18.30 Uhr im Kunstmuseum Moritzburg
Adresse: Friedemann-Bach-Platz, 506108 Halle (Saale)
am 28. April, 10.15 Uhr beim "taz Talk meets Buchmesse Leipzig"
Redaktionelle Bearbeitung: Hendrik Kirchhof
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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 15. März 2023 | 18:05 Uhr